Künstliche Intelligenz im Stahlwerk
von Dagmar Dieterle
„KI hilft uns, bessere Entscheidungen zu treffen“
Interview mit Andreas Dalchow, ArcelorMittal Bremen
Das Thema Künstliche Intelligenz (KI) wird auch in der Stahlproduktion immer tiefer diskutiert. Was ist an der Sache dran, dass sich mit KI ein ganzes Stahlwerk steuern lässt und was ist nötig, damit in Zukunft tatsächlich die KI einen großen Teil der Arbeit übernehmen kann? Über diese und weitere spannende Themen gibt Andreas Dalchow, Vorstand Technik Finishing, ArcelorMittal Bremen, Auskunft.
marketSTEEL: Wie sieht das Werk der Zukunft aus?
Andreas Dalchow: Unsere Vision des Werks der Zukunft – bzw. in der Sprache von ArcelorMittal „Plant of the Future“ – ist so, dass wir europaweit bereits viele Dinge vordenken, die dann von den unterschiedlichen Standorten von ArcelorMittal lokal adaptiert und umgesetzt werden. Zum Beispiel auch in dem Werk in Bremen, für das ich mit verantwortlich bin. Da geht es um Themen wie digitale Lösungen, maschinelles Lernen oder den Einbezug von Künstlicher Intelligenz. Lokale Lösungen werden dann immer entsprechend den individuellen Möglichkeiten und Gegebenheiten vor Ort weiterentwickelt. Jeder Standort hat auch immer seine Besonderheiten, etwa in Bezug auf die bestehenden Anlagenstrukturen oder die logistischen Materialflüsse am und um den Standort.
Dabei stellen wir uns digitale Lösungen für alle möglichen Prozesse vor. Heute ist es teilweise noch immer so, dass Daten und Informationen durch verschiedene Medien übermittelt werden und dann lokal mit Standard-Office-Lösungen weiterbearbeitet werden, dies kreiert oft Mehrarbeit und auch Fehler. Unser Ziel ist es, hier Lösungen zu schaffen, die alle Daten zentral verfügbar machen, sodass alle Mitarbeiter*innen auf die gleiche Datenbasis zurückgreifen können: Das sogenannte „Single Source of Truth“. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt: Das Ergebnis einer Lösung hängt am Ende immer von einer richtigen Entscheidung ab. Ordentlich aufgearbeitete Daten können dabei die Geschwindigkeit und Qualität einer Entscheidung entscheidend verbessern.
marketSTEEL: Welche Rolle spielt dabei KI?
Dalchow: Aus meiner Sicht spielt KI eine sehr wesentliche Rolle. Das Thema Big Data ist im Gespräch seit spätestens der Diskussion Digitalisierung 2.0. Wir haben unglaubliche Datenmengen, die bei der Stahlherstellung aufgenommen werden. Den Nutzungsgrad dieser Daten schätze ich aber nur auf ca. 10 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das: 90 Prozent der zur Verfügung stehenden Daten nutzen wir noch nicht. Die KI-Lösungen helfen uns dabei, diese großen Datenmengen so aufzubereiten, dass Menschen bessere Entscheidungen treffen können. In die Zukunft blickend können auch Maschinen auf Basis dieser Datenaufbereitungen passende Entscheidungen treffen.
marketSTEEL: Können Sie da ein konkretes Beispiel nennen?
Dalchow: Da gibt es bereits unterschiedliche Beispiele aus der Arbeitssicherheit, Qualitätskontrolle und anderen Prozessen. Wenn am Ende eines Arbeitsprozesses ein Materialstück gefertigt wurde, visualisieren heute Kameras das Materialstück und der Bediener fällt eine Entscheidung, nach Geometrie und anderen definierten Parametern. Sprich nach sichtbaren äußeren Entscheidungskriterien, die festgelegt wurden. Wenn ich eine KI habe, basieren diese Entscheidungen hingegen auf konkreten Bildern, die so hinterlegt wurden, dass positive und negative Merkmale definiert wurden. Die KI kann demnach selbständig ein Materialstück auf Basis der vorliegenden Daten bewerten, und autonom die Entscheidung treffen, ob ein Materialstück in den nächsten Produktionsschritt geht oder nicht.
marketSTEEL: Wie sieht der Arbeitsplatz der Zukunft in diesem Zusammenhang aus? Gibt es in Zukunft komplett neue Rollen und Verantwortungsbereiche?
Dalchow: Zunächst einmal werden wir sehr viel Unterstützung dabei brauchen, die gerade angesprochenen Lösungen zu entwickeln. Diese Unterstützung kann von Institutionen aber auch von Lösungsanbietern auf dem Markt kommen. Unabhängig davon braucht man einen Stamm an eigenen sehr gut ausgebildeten Mitarbeitern, um diese Lösungen in die Praxis zu implementieren. Dabei wird es neue Jobprofile geben, wie beispielsweise Datenanalyst*in, Datenarchitekt*in oder Digital Officer. Das sind Tätigkeiten, die wir unbedingt brauchen, denn es gilt zunächst einmal das Potenzial von Daten zu bestimmen, um daraus Lösungen zu entwickeln.
Schon heute lässt sich im Stahlwerk vor Ort klar erkennen: Die Automatisierung schreitet voran. Ein Beispiel sind hier automatisierte Kräne und die automatisierte Zusammenarbeit von verschiedenen Fördersystemen. Die Arbeitsplätze werden sich in der Zukunft weiter verändern und entwickeln. Der überwiegende Teil der Arbeitsplätze muss z.B. nicht mehr zwingend Vor-Ort im Werk sein. Diese Tätigkeiten können zukünftig remote, also von außen, gesteuert werden. Dennoch wird es Tätigkeiten geben, die eine Präsens Vor- Ort erfordern, mit einer gut ausgebildeten Belegschaft.
marketSTEEL: Das komplett autonome Stahlwerk wird es aber dennoch nicht geben?
Dalchow: Nein, nicht komplett autonom. Aber es ist schon erstaunlich, wie wenige Menschen zum eigentlichen Betrieb eines Werkes gebraucht werden. Ein Beispiel: Schon heute können neun Mitarbeiter*innen der Produktion ein ganzes Warmwalzwerk pro Schicht bedienen. Rückblickend, vor 20-30 Jahren, brauchte man für denselben Produktionsprozess 20-30 Mitarbeiter*innen. Wie hat man dies erreicht? Man hat angefangen, Steuerstände zusammenzulegen und diese mit Überwachungsinstrumenten auszustatten. Sprich: es gibt heute mehr Monitore in einem Raum, auf denen die Mitarbeiter*innen das Geschehen vor Ort verfolgen und viele Informationen verarbeiten. Das wird sich in Zukunft ändern, denn nicht mehr alle Daten werden auf viele Bildschirme übermittelt, sondern die relevanten in Echtzeit auf weniger Bildschirme, und auf digitalen Wegen und so gut aufbereitet werden, dass der Mitarbeitende eine sofortige Entscheidung treffen kann. Der nächste Schritt wäre, dass die Maschinen autonom Entscheidungen treffen können. Dies wird in der Zukunft immer mehr in den Fokus rücken.
marketSTEEL: Wo kommen die Mitarbeitenden her, die diese Entwicklung steuern?
Dalchow: Es ist ganz klar, wir brauchen Unterstützung. Wir können die notwendigen Mitarbeiter*innen dafür nicht alle selbst ausbilden. Es besteht also ein Arbeitsauftrag für Institute, Universitäten, aber auch für die Wirtschaft zu überlegen, wie das Thema Digitalisierung in der Stahlherstellung in den Studiengängen genug Wertigkeit erfährt.
marketSTEEL: Wird in 50 Jahren noch Stahl in Europa produziert?
Dalchow: Ja, wir werden meiner Meinung nach auch in 50 Jahren noch Stahl in Europa produzieren. Es kann jedoch sein, dass wir uns mehr auf bestimmte Stahlsorten spezialisiert haben. Sprich: Wir werden wohl nicht mehr in dem heutigen Umfang sogenannte „Commodities“ produzieren, sondern uns mehr auf höherwertige Produkte fokussieren. Also da, wo es um die Expertise von Spezialanwendungen geht, wird dies auch weiterhin in Europa passieren. Darüber hinaus kann man sagen: So lange die Automobilindustrie und die industrielle Weiterverarbeitung von Stahlprodukten in Europa angesiedelt ist, wird es alleine aus logistischen Gründen hier auch weiterhin eine zuliefernde Stahlindustrie geben.
Fotos: marketSTEEL