Chancen und Risiken des Umbaus der Stahlproduktion zur CO2-Neutralität
von Dagmar Dieterle
Interview mit Nicole Voigt, Managing Director & Partner, Boston Consulting Group
marketSTEEL: Zu Anfang eine ganz allgemeine Frage. Wo sehen Sie die Chancen oder Risiken beim Umbau der Stahlproduktion zur CO2-Neutralität in Deutschland?
Ich fange gerne so an: Deutschland ist eine Industrienation, ein Land, das noch eine bedeutende industrielle Basis hat. Wir müssen zusehen, dass dies auch so bleibt. Dazu brauchen wir „Grundnahrungsmittel“: Das ist die Basis-Chemie, das ist aber auch Stahl. Was zeichnet nun die deutsche bzw. europäische Stahlindustrie aus? Wir sind sehr vernetzt: Das BFI, die Forschungsinstitute in Aachen, Stahlhersteller und -abnehmer, alle diese Player sind sehr gut vernetzt. Wir sind in der lokalen Produktion zwar teurer, aber wir haben den Vorteil, dass wir diese wertvolle Vernetzung haben, dass wir neue Entwicklungen forcieren können und dass wir „Research and Development“ effizient vorantreiben. Deshalb werden neue Stähle nach wie vor allem in Europa entwickelt.
Die grüne Transformation ist eine epochale Aufgabe. Sie wird die Stahlindustrie grundlegend ändern. Die Frage ist, welchen Einfluss sie auf das Ökosystem Stahl haben wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Produktion und Weiterverarbeitung von Stahl in unmittelbarer Nähe zu den Abnehmern hochwertiger Stahlerzeugnisse erfolgt.. Es stellt sich jedoch die Frage, ob jede Produktionsstufe lokal erforderlich ist oder ob es Bereiche gibt, in denen Kürzungen vorgenommen werden könnten. Die gegenwärtige Diskussion konzentriert sich vornehmlich auf den Prozess des "Iron Making", also den ersten Schritt in der Stahlproduktion. Die Erzeugung von grünem, direkt reduziertem Eisen oder Eisenschwamm (DRI) ist besonders energieintensiv. Länder mit niedrigeren Kosten für erneuerbare Energien besitzen in diesem Bereich deutliche Kostenvorteile. Obwohl es nicht ideal erscheint, könnte der Zukauf von DRI in Betracht gezogen werden, um die Effizienz zu steigern, während die gesamte Wertschöpfungskette des Stahls lokal verbleibt. Vereinfacht ausgedrückt: Während früher Eisenerz gekauft wurde, steht nun der Erwerb von grünem Eisen im Vordergrund.
Das bedeutet nicht, dass wir ausschließlich zukaufen. Das sieht man schon daran, dass die großen deutschen Player auf dem Stahlmarkt (etwa ThyssenKrupp, Salzgitter oder ArcelorMittal), die ersten Direktreduktionsanlagen vor Ort in Mitteleuropa bauen. Die Frage ist: Werden diese Unternehmen nun auch die zweite oder dritte DRI-Anlage hier bauen - wohlwissend, dass die Produktionskosten hier höher sein werden als bei vergleichbaren Anlagen etwa im Mittleren Osten oder auch in Spanien oder Schweden, die in größerem Umfang auf günstige grüne Energie zurückgreifen können?
Es ist essenziell, die Vorteile des bestehenden Netzwerks, wie Kundennähe und Just-in-Time-Lieferungen, zu bewahren. Gleichzeitig könnte es notwendig werden, die unliebsame Entscheidung zu akzeptieren, dass ein Teil der Eisenproduktion verlegt werden muss. Natürlich könnte man auch das Gedankenspiel andersherum machen: Ich lasse die ganze Produktion hier. Dann setze ich die Industrie entweder großen Subventionen oder hohen Risiken aus. Ich weiß nicht, ob das so gut ist, deshalb möchte ich an dieser Stelle für einen Mix plädieren.
marketSTEEL: Sie meinen, dass man das Roheisen praktisch fertig einkauft?
Nicht unbedingt; man muss auch die Qualität kennen und wissen, wie ich mit dem Rohstoff umgehe, aber von der Grundidee: Ja. Ich muss mich darauf besinnen, was den Industriestandort Deutschland und Europa ausmacht. Und das ist die Co-Entwicklung und Vernetzung mit Universitäten etc. Diese Aspekte sollten vorrangig erhalten bleiben, selbst wenn dies bedeutet, dass ein Teil der Eisenproduktion abgegeben wird. Eine transparente Kommunikation ist hier wichtig. Es gilt, die Realität anzuerkennen: ein Teil der Eisenproduktion könnte abwandern, während der wesentliche Wertschöpfungsprozess der Stahlherstellung in Europa verbleibt.
marketSTEEL: Ja, die Wertschöpfung steckt ja häufig tatsächlich in Forschung und Entwicklung, während wir in Deutschland im Gegenzug nicht gerade für günstige Energie prädestiniert sind und auch die Rohstoffe nicht vor Ort haben. Was sind unsere Chancen, wenn wir uns vor allem auf unsere Stärken konzentrieren?
Wenn wir die Stahlindustrie so umbauen, dass wir uns auf unsere Stärken konzentrieren, dann können wir hochwertige Stähle herstellen, und zwar für alle Branchen. Von der Baubranche bis hin zu hochfesten Spezialstählen. Genau damit können wir gleichzeitig sicherstellen, dass die nachgelagerten Industrien hier bleiben.
marketSTEEL: Ein Negativbeispiel ist England, wo genau das nicht wirklich funktioniert hat. Man kann sagen: Heute hat England weder eine funktionierende Stahlindustrie noch eine substantielle weiterverarbeitende Industrie. Selbst die Autoindustrie ist auf dem Sprung, um sich alternative Produktionsstandorte zu suchen.
Genau, England ist ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte. Und die Regierung im Vereinigten Königreich realisiert das ja auch gerade und versucht gegenzusteuern. Das zeigt: Beim Thema Transformation muss man sich einzelne Entscheidungen genau überlegen und diese auch gut kommunizieren. Das ist ja kein einfaches Thema. Man muss also den Schulterschluss mit Gewerkschaften und anderen Playern suchen und die Botschaft vermitteln: Wir sichern einen riesigen Teil der Industrie vor Ort. Um unsere Stärken voranzubringen, müssen wir aber auch kleine Opfer bringen.
marketSTEEL: Von welchen Parteien bzw. Stakeholdern erwarten Sie hier den größten Widerstand?
Ich weiß gar nicht, ob man das so genau sagen kann. Nicht jeder versteht, was hier vor sich geht. Wenn wir uns auf die Straße stellen und sagen würden: „Wir verlagern Eisenschwamm ins Ausland“, dann werden die meisten sagen: Ich kenne nur den Küchenschwamm. Hier besteht die Aufgabe der Industrie und der Wirtschaftsverbände wirklich zu erklären, was unsere Wertschöpfungsketten sind und was davon besonders gut funktioniert und unbedingt vor Ort bleiben muss.
marketSTEEL: Diese Strategie hat auch den Vorteil, dass eventuell gar nicht so viele staatliche Hilfen notwendig sind.
Ja, am Ende muss ich mir überlegen: Wie schaffe ich es eine Industrielandschaft aufzubauen, die nicht langfristig subventioniert ist. Natürlich brauche ich zu Beginn große Anschubhilfen, da wir hier von Investitionskosten sprechen, die niemand alleine stemmen kann. Aber all dies muss darauf ausgelegt sein, dass wir keine Dauersubventionen haben. Schließlich wollen wir nach wie vor, dass marktwirtschaftliche Prinzipien in der Gestaltung und Optimierung von Prozessen greifen.
Fotos: BCG und marketSTEEL