Gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrates einer mitbestimmten Aktiengesellschaft

Gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrates einer mitbestimmten Aktiengesellschaft – Entscheidungsspielräume des Gerichts bei Vorschlägen konkurrierender Gewerkschaften

(OLG Stuttgart, Beschl. v. 24. 2. 2017 – 20 W 8/16)

 

Gehört einem Aufsichtsrat - z.B. aufgrund einer Amtsniederlegung - nicht die zur Beschlussfähigkeit nötige und/oder die nach Gesetz oder Satzung festgelegte Anzahl von Aufsichtsratsmitgliedern an, so erfolgt zur Ergänzung des Aufsichtsrates gemäß § 104 AktG die Bestellung von zusätzlichen Mitgliedern durch ein Gericht. Diese Ergänzung durch das Gericht geschieht auf Antrag des Vorstands der Gesellschaft oder bei mitbestimmten Gesellschaften alternativ auch durch Betriebsrat, Sprecherausschuss, Arbeitnehmervertreter, Gewerkschaften oder Spitzenorganisationen der Gewerkschaften. Das Antragsrecht der Arbeitnehmerseite gilt unabhängig davon, welches Mitbestimmungsgesetz auf die Gesellschaft Anwendung findet (Drittelbeteiligungsgesetz, Mitbestimmungsgesetz, etc.). Zudem findet § 104 AktG auch auf mitbestimmte KGaA oder GmbH Anwendung. In einem aktuellen Beschluss billigte das OLG Stuttgart den für eine Ergänzung eines Aufsichtsrates gemäß § 104 AktG zuständigen Gerichten bei ihrer Ergänzungsentscheidung einen weiten Entscheidungsspielraum zu.

 

In den Mitbestimmungsgesetzen ist geregelt, wie Aufsichtsräte von mitbestimmten Unternehmen mit Vertretern der Arbeitnehmer und der Anteilseigner zusammenzusetzen sind. In Bezug auf die Arbeitnehmerbank betrifft dies auch die Mindestbesetzung mit Gewerkschaftsvertretern, § 7 Abs. 2 MitbestG. In dem vom OLG Stuttgart zu entscheidenden Fall wurde die Entscheidung des zuständigen AG Stuttgart zur Ergänzung des Aufsichtsrates der Daimler AG von der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM) angegriffen, da ihr Kandidatenvorschlag vom Gericht nicht berücksichtigt worden war. Im Ergebnis wies der 20. Zivilsenat des OLG Stuttgart die Beschwerde der CGM gegen den vorangegangenen Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 25. August 2016 als unbegründet zurück.

Der zwanzigköpfige Aufsichtsrat der Daimler AG setzt sich aus zehn Anteilseignervertretern und zehn Arbeitnehmervertretern zusammen, von denen wiederum sieben Arbeitnehmer des Unternehmens und drei Vertreter von Gewerkschaften sind. Die Arbeitnehmerbank musste 2016 um einen Gewerkschaftsvertreter ergänzt werden, nachdem ein Aufsichtsratsmitglied aus dem Kreis der Vertreter der Gewerkschaften vor Ende der Wahlperiode ausgeschieden war. Der Vorstand der Daimler AG und die IG Metall beantragten hierzu gemäß § 104 Abs. 2 AktG, Sibylle Wankel als Aufsichtsratsmitglied zu bestellen. Sie hatte zuvor bis zum 30. Juni 2016 dem Aufsichtsrat der Audi AG angehört und ist weiterhin Mitglied des Aufsichtsrats der Siemens AG. Die CGM schlug daneben eine Mitbewerberin vor, die seit 22 Jahren auf Abteilungsleiterebene bei der Daimler AG beschäftigt ist.

Das Amtsgericht Stuttgart als Vorinstanz hatte in seinem Beschluss vom 25. August 2016 u. a. ausgeführt, dass die beiden vorgeschlagenen Personen generell geeignet seien, das Aufsichtsratsmandat zu übernehmen. Für Frau Wankel spreche allerdings besonders, dass sie – anders als die Mitbewerberin – Volljuristin mit Schwerpunkt im Arbeits- und Sozialrecht sei und so im Aufsichtsrat der Daimler AG, dem derzeit lediglich ein Jurist angehöre, diesbezüglicher Sachverstand ergänzt werden könne. Darüber hinaus verfüge Frau Wankel über Erfahrung in der Aufsichtsratstätigkeit; ein Interessenwiderstreit zu ihrem noch bestehenden Aufsichtsratsmandat bei der Siemens AG bestehe nicht. Der Mitbewerberin fehle darüber hinaus vergleichbare Erfahrung hinsichtlich der Aufsichtsratstätigkeit; zudem bestehe aufgrund ihrer langjährigen Beschäftigung bei der Daimler AG in leitender Funktion die Gefahr von Beeinflussung und Abhängigkeit, woraus Interessenkonflikte bei der Aufsichtsratstätigkeit resultieren könnten.

 

Der 20. Zivilsenat des OLG Stuttgart hat sich in seiner Entscheidung der Begründung des Amtsgerichts Stuttgart angeschlossen und darüber hinaus zu dem Beschwerdevorbringen im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

  • Einem der Arbeitnehmerschaft angehörigen Gewerkschafter kommt gegenüber einem externen Gewerkschaftsvertreter bei der nach § 104 AktG durch das Gericht vorzunehmenden Bestellung kein genereller Vorrang zu.
  • Ein Interessenkonflikt von Frau Wankel aufgrund des fortbestehenden Aufsichtsratsmandats bei der Siemens AG ist nicht anzunehmen. Abgesehen davon, dass die Wahrnehmung von Organtätigkeiten in einem Konkurrenzunternehmen bereits in rechtlicher Hinsicht im Regelfall keinen Ausschlussgrund darstellt, wurden in dem gerichtlichen Verfahren auch in tatsächlicher Hinsicht keine konkreten Anhaltspunkte für ein Konkurrenzverhältnis ersichtlich.
  • Auch aus dem Umstand, dass dem Aufsichtsrat der Daimler AG gleichzeitig auch der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG als Mitglied angehört, resultieren nach Ansicht des OLG Stuttgart keine Bedenken. Der 20. Zivilsenat sah in seiner Entscheidung keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG angesichts der Stellung von Frau Wankel als Aufsichtsratsmitglied bei der Siemens AG von ihr abhängig sei und es dadurch zu einer faktischen Umkehrung des rechtlich gebotenen Übergewichts der Anteilseigner zugunsten der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat der Daimler AG kommen könne.
  • In dem Beschluss stellt das OLG Stuttgart zudem – entsprechend dem Gesetzeswortlaut – klar, dass § 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Kontrollfunktion des Aufsichtsrates nur den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat derselben börsennotierten Gesellschaft beschränkt. Eine Karenzzeit war – entgegen dem Vorbringen der CGM - von Frau Wankel nach ihrer Aufsichtsratstätigkeit bei der Audi AG - auch nicht analog zu § 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG - einzuhalten.
  • Schließlich ergibt sich weder aus dem Aktiengesetz noch aus anderen Vorschriften ein Auswahlkriterium, nach welchem das Gericht bei seiner Ermessensentscheidung über die Ergänzung berücksichtigen muss, dass alle im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften innerhalb der Arbeitnehmerbank des Aufsichtsrats repräsentiert sein müssen.

 

Praxishinweis:

Auch wenn es sich hierbei nicht um eine höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH handelt, sollte die Entscheidung von mitbestimmten Unternehmen beachtet werden. Die Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrates ist von erheblicher praktischer Relevanz für ein Unternehmen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, bei einem Ausscheiden einzelner Aufsichtsratsmitglieder während der Mandatslaufzeit zügig eine rechtssichere Nachbesetzung von Aufsichtsräten gerichtlich herbeizuführen. Konflikte zwischen konkurrierenden Gewerkschaften hinsichtlich der Kandidatenwahl können diesen Entscheidungsprozess aufgrund kollidierender Vorschlagsrechte und Interessen erschweren. Mit den vom OLG Stuttgart den nach § 104 AktG zuständigen Gerichten zugebilligten Entscheidungsspielräumen werden solche Konflikte zwar nicht ausgeschlossen, aber das OLG Stuttgart stellt klar, welche Argumente - gerade von Klein- bzw. Spartengewerkschaften -  bei einer Beschwerde gegen Bestellungsbeschlüsse aussichtslos sind. Hierdurch wird bestenfalls die Ausübung von Beschwerderechten nicht berücksichtigter Antragsteller in Zukunft reduziert.

Information zum Autor:

Andreas Hecker, LL.M. oec., Rechtsanwalt/Partner bei Hoffmann Liebs Fritsch & Partner Rechtsanwälte mbB

Herr Hecker berät Unternehmen und Unternehmensgruppen bei gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Fragen. Er veröffentlicht regelmäßig zu gesellschaftsrechtlichen Themen sowie zur Corporate Governance in ausgewählten Fachzeitschriften und Branchenmagazinen und wirkt an Gründerwettbewerben für Startups mit.

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