Tag der Industrie 2024: Wachstumskräfte jetzt stärken

von Hubert Hunscheidt

Pressestatement von BDI-Präsident Siegfried Russwurm:

„Auf dem Tag der Industrie 2024 tauschen sich heute und morgen unter dem Leitmotiv „Zusammenhalt in polarisierten Welten“ Entscheiderinnen und Entscheider aus der Politik und den Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften und der Wissenschaft intensiv aus. Wir sprechen in unserem Motto bewusst im Plural von „Welten“, weil wir diese Polarisierung auf verschiedenen Ebenen erleben: Beim Blick auf geopolitische Spannungen und die globalen Wirtschaftsblöcke, aber auch in Deutschland und Europa fordert uns das Erstarken nationalistischer Kräfte mit ihrer Polarisierung und ihren Ressentiments heraus. Und auch mit Blick auf die Wirtschaftspolitik blockiert uns in Deutschland die überzogene Polarisierung vieler gesellschaftlicher und politischer Debatten.

Globale Situation

Blicken wir in die Welt, ist für uns entscheidend, wie Europa seinen Platz als starke Wirtschaftsregion in einer Welt rivalisierender Machtblöcke behauptet.

In den USA steht bald eine richtungweisende Wahl an. Trump 2.0 wäre für Europa sicherlich das schwierigere und weniger berechenbare Ergebnis – vor allem sicherheitspolitisch. Aber industriepolitisch wird sich Einiges eben auch nicht grundlegend ändern: Den Fokus auf den heimischen Markt und US-Arbeitsplätze gibt es schon jetzt. Die USA fordern uns zudem im globalen Wettbewerb heraus - mit ihrem wirtschaftlichen Pragmatismus, ihrer Schnelligkeit und ihren Führungspositionen in der Digitalwirtschaft und besonders im Thema Künstliche Intelligenz. Ergebnis ist ein kräftiges Wachstum dort. In unserem heute veröffentlichen globalen Wachstumsausblick heben wir unsere Erwartung für die US-Wirtschaft auf +2,5 Prozent in diesem Jahr an – während wir uns in Europa und vor allem in Deutschland weiter knapp über der Nulllinie bewegen.

China ist für uns nicht nur ein Wettbewerber in vielen Märkten und in manchen globalen Themen auch notwendiger Partner, sondern eben auch ein systemischer Rivale. Die aktuelle Diskussion um Zölle der EU auf Elektroautos zeigt schlagzeilenträchtig die konkreten Folgen für die Industrie. Aber auch im Bereich der für die Industrie kritischen Rohstoffe spielt China seine Vormachtstellung zunehmend aus. Minister Habeck, der später hier unser Gast sein wird, ist heute Nacht aus China zurückgekehrt. Ich bin gespannt, was er aus erster Hand berichtet.

Europa muss stärker werden

Wie muss Europa, wie muss Deutschland sich im geoökonomischen Kräftemessen positionieren? Europa muss wieder wettbewerbsfähiger werden – und das heißt zuvorderst innovativer und dynamischer.

Konkret: Ab Donnerstag kommen die EU-Regierungschefs zusammen, um die Spitzenpositionen für die Kommission zu diskutieren. Dann entsteht in den nächsten Wochen das Programm für die neue europäische Legislaturperiode.

Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie im Interesse des größten europäischen Industrielands eine klare Agenda für Europa einfordert – einen Wachstumsplan, der auf industrielle Leistungskraft, auf Innovation, auf weniger Bürokratie und auf mehr Handlungsfreiheit für Unternehmen setzt.

Der Green Deal muss mit einem europäischen Wachstumsplan, einem Industrial Deal, flankiert werden. Was heißt das konkret?

Die Stärkung des Binnenmarkts muss Top-Priorität bekommen, damit die Skalierung neuer Geschäftsmodelle und Technologien im drittgrößten Wirtschaftsraum der Welt gelingt. Dazu gehört die Integration fragmentierter Kapitalmärkte und des Energie-Binnenmarkts.
EU-Gesetzesinitiativen müssen einem Wettbewerbsfähigkeits-Check unterzogen werden. Wenn sie den nicht bestehen, müssen sie angepasst werden. Bürokratieabbau und die pragmatische Beschleunigung von Verfahren sind entscheidend.

Die EU braucht ein zukunftsfähiges Wettbewerbsrecht. Ja, es muss faire Wettbewerbsbedingungen innerhalb der EU sicherstellen. Aber gleichzeitig muss die Kommission stärker die globale Wettbewerbssituation und die dynamische Marktentwicklung gerade bei hochinnovativen Technologien berücksichtigen können.

Handelsabkommen müssen auf der Agenda ganz nach oben. Wir gewinnen durch internationale Arbeitsteilung, erschließen neue Absatzmärkte und schützen uns vor Abhängigkeiten von einzelnen Lieferländern. Damit das gelingt, muss gelten: Pragmatismus statt Idealismus. Der Versuch, unsere Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft in anderen Ländern durch wirtschaftlichen Druck durchzusetzen, ist naiv. Wenn die EU bei der Verhandlung von Handelsabkommen nicht pragmatischer wird, werden weitere kaum gelingen – zu unserem Schaden.  

Weitere sehr konkrete Vorschläge haben wir der Politik vor der Europawahl vorgelegt.

Prioritäten für Deutschland

Was für Europa gilt, gilt auch für Deutschland: Wir brauchen wirtschaftliche Stärke und Dynamik, um Klimaschutz und die digitale Transformation erfolgreich umzusetzen, aber auch um verteidigungsfähig zu sein - und nicht zuletzt auch, um eine alternde Gesellschaft zu finanzieren.

Diese Stärke haben wir derzeit nicht. Wir veröffentlichen heute auch unsere neue Konjunkturprognose für Deutschland. Leider können wir nur vermelden, dass wir weiterhin mit einem mageren Zuwachs der Wirtschaftsleistung von 0,3 Prozent in diesem Jahr rechnen.

Die Erholung im Verarbeitende Gewerbe kommt kaum voran. Die Industrieproduktion sinkt 2024 voraussichtlich um 1,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Kapazitätsauslastung im Verarbeitenden Gewerbe sank zu Beginn des 2. Quartals auf 80,3 Prozent. Nur während der weltweiten Finanzkrise und zu Beginn der Corona-Pandemie waren die Kapazitäten schlechter ausgelastet.

Zwar erwarten auch wir eine leichte konjunkturelle Erholung im weiteren Jahresverlauf, aber die Strahlkraft dieses Silberstreifs hält sich in Grenzen.

Der langfristige Trend, das Potentialwachstum, ist mit 0,5 Prozent pro Jahr viel zu gering. Niedriges Wachstum bedeutet auch geringes Wachstum der Steuereinnahmen und damit geringe Spielräume im Staatshaushalt. Wenn sich also an den Wachstumskräften nichts ändert, wird es sehr schwierig, die vor uns liegenden Aufgaben zu bewältigen. Im Standortranking fällt Deutschland dann noch weiter zurück, und der Rückstand auf unsere Weltmarktkonkurrenten wird noch größer.  

Wir erwarten, dass die Regierung jetzt dringend mit einer entschlossenen Wachstumsagenda reagiert. Das avisierte Dynamisierungspaket muss diesem Namen auch gerecht werden. Wir alle spüren doch, dass derzeit die notwendige Dynamik fehlt. Damit sich das ändert, muss die Investitionstätigkeit am Standort gestärkt werden.
Das gilt für die privaten Investitionen. Dafür müssen die Rahmenbedingungen Sicherheit schaffen, dass sich diese Investitionen auch lohnen.
Und das gilt für die öffentlichen Investitionen, die diese Rahmenbedingungen massiv beeinflussen und bei denen sich seit Jahrzehnten ein Rückstau aufbaut, der immer mehr zur Bremse für das ganze Land wird.

Was ist zu tun?

Damit unerlässliche öffentliche Investitionen endlich angegangen werden können, brauchen wir Klarheit über die Finanzierung. Wir haben vor zwei Wochen eine bislang fehlende Gesamtschau vorgelegt, in welchen Feldern und in welcher Größenordnung staatliche Investitionsbedarfe vor allem bei Bund und Ländern bestehen. Um das noch einmal zu unterstreichen: Wir fordern nicht neue Mehrausgaben des Staates. Sondern wir haben eine Bestandsaufnahme gemacht, welche öffentlichen Investitionen fällig oder überfällig sind – Investitionen, die sich aus politischen Zielsetzungen und gesetzlichen Verpflichtungen zwingend ergeben.
Und es fehlte erst recht die kritische Bestandsaufnahme, inwieweit die Finanzierung dafür gesichert ist.
Über zehn Jahre gesehen kommen wir auf rund 400 Milliarden Euro, deren Finanzierung noch nicht gesichert ist. Dabei handelt es sich zum allergrößten Teil um Investitionen in Infrastruktur wie Verkehrswege oder Schulen und zum kleineren Teil um Investitionsprogramme für die grüne Transformation und für den öffentlichen Anteil am Aufbau wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit.

Um wirtschaftliche Dynamik und private Investitionenzu steigern, braucht es erstens strukturelle Reformen für mehr Wachstum. Das schafft dann über ein höheres Steueraufkommen mehr Spielräume für die Finanzierung staatlicher Investitionen. Zweitens müssen die Haushaltsmittel insgesamt effizienter eingesetzt werden – nicht zuletzt durch eine stärker digitalisierte Verwaltung. Drittens muss sich die Politik dem harten Ringen um Priorisierungen im Haushalt stellen – und auch den Mut zu unbequemen und schmerzhaften Entscheidungen haben.

Nur wenn diese drei Schritte konsequent umgesetzt sind, halten wir für verbleibende Bedarfe das Einrichten präzise zweckgebundener und zeitlich klar definierter Kreditpakete für vertretbar – und die dürfen dann auch gerne „Sondervermögen“ heißen.
Weil dieses Verschuldungsinstrument einen breiten politischen Konsens über Parteigrenzen hinweg benötigt, schafft es Planungssicherheit über Legislaturperioden hinaus und lässt sich eindeutig konditionieren. Beides würde eine Lockerung der Schuldenbremse nicht sicherstellen, deshalb lehnen wir sie ab.

Darüber hinaus sind aber noch eine ganze Reihe von „Baustellen“ offen:

Wir brauchen Planungssicherheit für Preis und Verfügbarkeit von Energie.
Eine Idee für eine Kraftwerksstrategie liegt vor. Aber wie der dafür erforderliche Kapazitätsmarkt funktionieren soll, ist noch immer offen. Ebenso viele technische Fragen mit Blick auf das Design „wasserstofffähiger Gaskraftwerke“. Der Ausbau von Übertragungs- und Verteilnetzen für grünen Strom und Wasserstoff muss beschleunigt werden - Letzteres, bevor wir aus fossilem Gas aussteigen können. Die Kosteneffizienz dieses Ausbaus muss ständig überprüft werden. Und es braucht Klarheit, wer den Ausbau langfristig finanziert. Netzentgelte dürfen nicht weiter der Preistreiber sein.

Arbeitskräfteknappheit ist eine große Wachstumsbremse.
Wir brauchen bessere Anreizsysteme für freiwillige Mehrarbeit.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist beschlossen und hat die richtigen Ansätze. Aber es wird sich nur dann signifikant positiv auswirken, wenn alle beteiligten Stellen an einem Strang ziehen, von der Botschaft oder dem Generalkonsulat in 205 Ländern bis zur Ausländerbehörde im Landratsamt, komplett digital – das darf kein frommer Wunsch bleiben, sondern muss unverzüglich kommen.

Das Wachstumschancengesetz braucht ein massives Upgrade. Zum Beispiel sind die in dem Gesetz enthaltenen verbesserten Abschreibungsbedingungen zeitlich viel zu eng begrenzt und müssen verlängert werden.

Ein entschlosseneres Bürokratieentlastungsgesetz muss kommen. Das kostet nichts, kann aber wirtschaftliche Dynamik entfesseln. Die bisher von der Bundesregierung beschlossenen Entlastungen sind viel zu kleinteilig und bringen für Unternehmen oft keine signifikante Erleichterung.

Und last, but not least: Wir brauchen ein wettbewerbsfähiges System der Unternehmensbesteuerung. Am Ende sollte eine Belastung der Unternehmen von maximal 25 Prozent stehen – und selbst das wären 4 Prozentpunkte mehr als im EU-Durchschnitt.

Meine Damen und Herren,

die deutsche Industrie, die deutsche Wirtschaft steht zu diesem Standort. Er hat viele Stärken, und wir wollen hier investieren und wachsen. Die Innovationsfähigkeit bei Produkten und Prozessen ist weiterhin hoch und bietet viele Chancen, Deutschland als starken Industriestandort in die Zukunft zu führen. Das geht aber nicht mit angezogener Handbremse.

Es braucht jetzt ein deutliches und geschlossenes Signal aus der Bundesregierung, dass die Wachstumsschwäche als Problem erkannt ist und angemessen adressiert wird. Und es braucht einen breiten politischen Konsens, wie die strukturellen Herausforderungen des Standorts Deutschland über die laufende Legislaturperiode hinaus gemeinsam angegangen werden – durch den Zusammenhalt der Demokraten in polarisierten Welten.

Quelle und Foto: Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI)

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