Sachverständigenrat stellt Herbstgutachten vor

von Hubert Hunscheidt

Die Wirtschaftspolitik steht vor der Aufgabe, die schwere Rezession zu überwinden und gleichzeitig den langfristigen Herausforderungen für die deutsche Volkswirtschaft zu begegnen. Dies diskutiert der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2020/21 mit dem Titel „Corona-Krise gemeinsam bewältigen, Resilienz und Wachstum stärken“, das er heute der Bundesregierung überreicht hat.

Die Corona-Pandemie hat zu einer der schwersten Rezessionen der Nachkriegszeit geführt. Nach dem tiefen Einbruch im zweiten Quartal setzte über den Sommer zunächst eine kräftige Erholung ein. „Die Corona-Krise ist noch nicht bewältigt“, erläutert jedoch Lars P. Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrates. „Durch die stark steigenden Infektionszahlen bleibt die wirtschaftliche Lage fragil. Für die weitere Entwicklung ist entscheidend, wie die Pandemie eingedämmt werden kann und wie sich die Wirtschaft im Ausland entwickelt.“

Die pandemiebedingte Rezession überwinden

Da es in den Sommermonaten zu einer sehr kräftigen Erholung kam, korrigiert der Sachverständigenrat seine Prognose vom Juni nach oben und erwartet für das Jahr 2020 einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 5,1 % (kalenderbereinigt 5,5 %). Die Erholung dürfte sich mit einem Wachstum von 3,7 % im kommenden Jahr (kalenderbereinigt ebenfalls 3,7 %) verlangsamt fortsetzen. Die Prognose berücksichtigt den jüngsten weiteren Anstieg der Infektionszahlen sowie die im Oktober 2020 beschlossenen Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivität.

Die Wirtschaftspolitik hat rasch umfangreiche geld- und fiskalpolitische Maßnahmen ergriffen, welche die Wirtschaft gestützt haben. Das Konjunkturpaket dürfte zur Erholung beitragen, allerdings ist es nicht in allen Teilen zielgenau. Vorteilhaft wäre es im weiteren Verlauf der Krise, die Möglichkeiten zum steuerlichen Verlustrücktrag auszuweiten sowie die Überbrückungshilfen stärker nach Betroffenheit durch die Pandemie zu differenzieren.

Auf europäischer Ebene kann der Aufbaufonds durch zielgerichtete Investitionen und Reformen in den Mitgliedstaaten der EU die Resilienz und die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums erhöhen. Um auf zukünftige Krisen angemessen reagieren zu können, sollten im Zuge einer verfestigten Erholung wieder größere Spielräume für die Fiskal- und Geldpolitik in Deutschland und dem Euro-Raum eröffnet werden.

Langfristige Herausforderungen im Blick behalten

Konjunkturelle Stützungsmaßnahmen sollten den Wandel hin zu langfristig wettbewerbsfähigen Strukturen nicht behindern. Die Ausweitung der Kurzarbeit konnte einen stärkeren Anstieg der Arbeitslosenquote vermeiden. Die Zeit in der Kurzarbeit sollte jedoch intensiv dafür genutzt werden, Beschäftigte weiterzubilden und sie für zukünftige Herausforderungen des technologischen Wandels zu wappnen. Gerade angesichts des demografischen Wandels sind Bildung, Weiterbildung und ein lebenslanges Lernen wichtig.

„Obwohl die Bewältigung der Pandemie aktuell im Vordergrund steht, ist der Strukturwandel eine weitere große Herausforderung, aus dem sich aber nennenswerte Chancen ergeben. Damit Unternehmen und Haushalte diese wahrnehmen können, benötigen sie klare Rahmenbedingungen“, erklärt Lars P. Feld. Eine Möglichkeit besteht in einer Energiepreisreform, welche die EEG-Umlage abschafft und die Stromsteuer auf das europäische Minimum absenkt. Damit werden die Koordinationsfunktion des CO2-Preises gestärkt und Anreize zur Sektorkopplung (Einsatz von Strom in den Sektoren Wärme und Verkehr sowie in der Industrie) verbessert. In der Energie- und Klimapolitik ist ein international koordiniertes Vorgehen notwendig.

Die Corona-Pandemie hat zu einem Digitalisierungsschub geführt, der die negativen Auswirkungen abzufedern hilft, beispielsweise durch die Nutzung von Homeoffice. Gleichzeitig wurden jedoch Defizite bei der Digitalisierung im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in der öffentlichen Verwaltung in Deutschland deutlich, die rasch abgebaut werden sollten. Um die Diffusion digitaler Technologien zu beschleunigen und neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen, sind weitere Investitionen in die digitale Infrastruktur und die Reduktion bürokratischer Hürden bei deren Ausbau notwendig. Die im Konjunkturpaket vorgesehenen Maßnahmen können dazu beitragen.

Durch die Alterung der Gesellschaft und den Renteneintritt der Baby-Boomer werden die Belastungen der sozialen Sicherungssysteme in Zukunft stark ansteigen. Kurzfristig könnte ein vorzeitiges Wiedereinsetzen des Nachholfaktors dem Kostenanstieg in der Gesetzlichen Rentenversicherung entgegenwirken. Langfristig könnte eine Erhöhung des  Renteneintrittsalters durch eine Kopplung an die fernere Lebenserwartung das Tragfähigkeitsproblem abschwächen. Dabei würde die steigende Lebenserwartung zu einem Drittel in eine längere Rentenphase und zu zwei Dritteln in eine längere Erwerbsphase aufgeteilt.

Internationale Arbeitsteilung und Kooperation sind in der aktuellen Situation und langfristig essenziell. Die wirtschaftliche Erholung in einer offenen Volkswirtschaft wie Deutschland kann nur gelingen, wenn das Infektionsgeschehen außerhalb Deutschlands ebenfalls eingedämmt wird und sich die weltweite wirtschaftliche Entwicklung normalisiert. Gleichzeitig sollte neuem Protektionismus infolge der Krise entgegengetreten werden.

Die EU ermöglicht es den Mitgliedstaaten, die Chancen des Binnenmarkts zu nutzen und international gemeinsam zu handeln, etwa in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es sollte das vorrangige Ziel sein, gemeinsam gestärkt aus der Krise hervorzugehen, indem Produktivität und Wachstum gefördert und die Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen erhöht werden. Das richtige Instrument zur Weiterentwicklung der EU wäre der längerfristige Mehrjährige Finanzrahmen. Der Aufbaufonds sollte, genauso wie die übrigen temporären Krisenmaßnahmen, hingegen nicht ohne eine transparente Kompetenzverschiebung auf die EU-Ebene und einen entsprechenden Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten
dauerhaft fortgeführt werden.

Quelle, Foto und Grafik: Sachverständigenrat im Statistischen Bundesamt

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