Sachverständigenrat erwartet für 2022 nur 1,7 Prozent Wachstum
von Hubert Hunscheidt
Hohe Energiepreise belasten die deutsche Konjunktur. Der Sachverständigenrat erwartet daher für 2022 nur noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,7 % und für 2023 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,2 %.
Kurzfristig muss die Energieknappheit durch eine Ausweitung des Angebots und Einsparungen bekämpft werden. Zudem sollten Haushalte und Unternehmen von den hohen Energiepreisen möglichst zielgenau entlastet werden.
Mittelfristig muss die Wirtschaftspolitik das Fachkräftepotenzial sichern und angesichts der geopolitischen Veränderungen Abhängigkeiten reduzieren.
Die Energiekrise und die hohe Inflation belasten die Haushalte und die Unternehmen in Deutschland massiv. Daher sind Maßnahmen gegen die Energieknappheit und möglichst zielgenaue Entlastungen angezeigt. Die Finanzierung dafür muss sichergestellt werden, ohne die öffentlichen Finanzen übermäßig zu strapazieren. Geopolitische Veränderungen erfordern, dass Deutschland seine Abhängigkeiten in den Lieferketten reduziert. Der strukturelle und der demographische Wandel machen eine zielgerichtete berufliche Weiterbildung sowie eine gesteuerte Erwerbsmigration unverzichtbar. Wie man die „Energiekrise solidarisch bewältigen“ und diese „neue Realität gestalten“ kann, diskutiert der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2022/23, das er heute der Bundesregierung überreicht hat.
Die wirtschaftliche Entwicklung im ersten Halbjahr 2022 wurde vor allem durch den noch steigenden Dienstleistungskonsum gestützt. Seit Mitte des Jahres führen die massiv angestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise aber zu immer stärkeren Kaufkraftverlusten und dämpfen den privaten Konsum. Gleichzeitig belastet die Energiekrise die Produktion, insbesondere in den energieintensiven Industriezweigen. Die globale Abkühlung schwächt die Exportnachfrage. Aufgrund des massiv verschlechterten Ausblicks senkt der Sachverständigenrat die Prognose für das Jahr 2022 und erwartet, dass das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland nur noch um 1,7 % steigt – für das Jahr 2023 erwartet er einen Rückgang des BIP von 0,2 %. Im Jahr 2023 dürften Exporte und Investitionen der Unternehmen aber allmählich wieder zunehmen. Außerdem ist zu erwarten, dass die Lieferengpässe langsam nachlassen und der hohe Auftragsbestand der Industrie abgearbeitet wird.
Die Verbraucherpreisinflation in Deutschland erreichte im Oktober 2022 mit 10,4 % den höchsten Wert seit Anfang der 1950er-Jahre. Seit Jahresbeginn sind die Energiepreise weiter gestiegen. Die nun höheren Produktionskosten werden zunehmend an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben, was auch die Kerninflation antreibt. Der Sachverständigenrat rechnet daher mit einer Inflationsrate von 8,0 % für das Jahr 2022 sowie von 7,4 % für das Jahr 2023. Hohe Inflationsraten dämpfen das Wirtschaftswachstum und können sich negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken. Sie können auch die Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen der Unternehmen nachteilig beeinflussen. „Die EZB muss daher weiterhin entschlossen handeln“, erklärt Ulrike Malmendier, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. „Die Kunst dabei ist, die Zinsen mit Augenmaß zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, ohne dass die Konjunktur übermäßig einbricht.“
Die privaten Haushalte sind durch die Inflation unterschiedlich stark belastet. So müssen ärmere Haushalte ihren Konsum besonders stark einschränken, weil sie einen größeren Anteil ihres Nettoeinkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben, die sich besonders stark verteuerten. Angesichts der enormen Preissteigerungen sind umfangreiche Entlastungsmaßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt. Viele der beschlossenen oder geplanten Maßnahmen sind jedoch nicht zielgenau, weil sie wie der Tankrabatt die Energiesparanreize schwächen oder im großen Umfang auch einkommensstarken Haushalten zufließen, die die Belastungen selbst tragen könnten. „Der Ausgleich der kalten Progression ist steuersystematisch zwar grundsätzlich geboten“, sagt Achim Truger, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. „Aktuell geht es aber um eine zielgenaue Entlastung unterer und mittlerer Einkommensgruppen, und die öffentlichen Haushalte sollten nicht überstrapaziert werden. Daher sollte der Abbau der kalten Progression auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.“ Einkommensstarke Haushalte könnten auch streng befristet über einen Energie-Solidaritätszuschlag oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes an der Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen beteiligt werden. Das würde dazu beitragen, die Zielgenauigkeit des Gesamtpakets aus Entlastungen und Belastungen zu erhöhen und die Energiekrise solidarisch zu bewältigen.
Um den Anstieg der Energiepreise zu dämpfen, sollte die Energieknappheit durch eine Ausweitung des Angebots und Einsparungen bekämpft werden. Die hohen Energiepreise belasten vor allem die sehr energieintensiven Wirtschaftsbereiche wie die Metallindustrie oder die Herstellung von Glas und Keramik sowie besonders energieintensive Produkte aus der chemischen Grundstoffindustrie. „Die dauerhaft hohen Energiepreise werden den ohnehin anstehenden Strukturwandel in der Industrie weiter beschleunigen und die Energieintensität in der Industrie noch zügiger als bisher reduzieren“, erklärt Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft. „Eine breite Deindustrialisierung des Standorts Deutschland ist jedoch nicht zu befürchten.“ Die Energieintensität der deutschen Volkswirtschaft ist seit den Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre bereits deutlich zurückgegangen. Dies wurde durch zwei Entwicklungen getrieben: Weniger energieintensive Wirtschaftsbereiche haben leicht an Bedeutung gewonnen. Vor allem aber hat sich die Energieeffizienz in den einzelnen Wirtschaftsbereichen erhöht.
Die Corona-Krise und der russische Angriffskrieg haben gezeigt, dass Deutschland bei Energie sowie vielen kritischen Rohstoffen und Produkten von anderen Staaten abhängig ist. Die geopolitischen Veränderungen haben die damit verbundenen Risiken deutlich erhöht. In Deutschland und Europa sollte die strategische Autonomie daher stärker in den Fokus rücken. „Es ist dringend erforderlich, unsere Abhängigkeiten zu reduzieren und die Resilienz der Wertschöpfungsketten zu steigern. Dazu sollten wir einerseits europäische Produktionskapazitäten und Infrastrukturen ausbauen und andererseits die Lieferketten und die Bezugsquellen kritischer Rohstoffe und Energieträger diversifizieren“, erläutert
Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft.
Die Entlastungsmaßnahmen in der Energiekrise, die Ausgaben für Energiesicherheit und die Verteidigungsfähigkeit sowie die Corona-Hilfen waren möglich, weil die Ausnahmeklausel der Schuldenbremse angewendet wurde. Ein Aussetzen der Schuldenbremse ließe sich im Jahr 2023 aufgrund der Folgen der Energiekrise erneut rechtfertigen. Die stattdessen vorgesehene Verschiebung von Finanzierungsaufgaben in das Sondervermögen Wirtschaftsstabilisierungsfonds könnte zwar insgesamt die schuldenfinanzierten Ausgaben stärker auf Energiepreisentlastungen begrenzen. Sie reduziert jedoch die Transparenz des Bundeshaushalts und ist unter diesem Gesichtspunkt kritisch zu bewerten. Die Schuldenstandsquote ist seit Beginn der Corona-Krise deutlich angestiegen. Bisher wird die mittelfristige Tragfähigkeit des deutschen Staatshaushalts dadurch nicht gefährdet. Perspektivisch müssen die Staatsfinanzen in Deutschland aber konsolidiert werden. In Europa muss die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen angesichts hoher Schuldenstandsquoten und steigender Zinsen in vielen Mitgliedstaaten sichergestellt werden. Eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion sollte die Schuldentragfähigkeit sichern und die staatliche Aufgabenerfüllung gewährleisten.
„Deutschland befindet sich zwar in einem Abschwung, der Arbeitsmarkt ist aber robust. Es fehlen derzeit viele Fachkräfte und selbst ungelernte Arbeitskräfte“, konstatiert Martin Werding, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. „Ohne zusätzliche Erwerbsmigration und berufliche Weiterbildung bleiben die Fachkräfteengpässe dauerhaft bestehen und nehmen zu.“ Über Umschulungen und Weiterqualifizierungen können vom Strukturwandel betroffene Beschäftigte für andere Tätigkeiten qualifiziert werden, um zu verhindern, dass sie arbeitslos werden. Das berufliche Weiterbildungsangebot sollte dazu durch bundesweite Mindestqualitätsstandards verbessert und die Finanzierung etwa durch eine Ausweitung der Bildungszeit gefördert werden. Ergänzend sollte die Erwerbsmigration erleichtert werden, indem die Gleichwertigkeitsprüfung der Abschlüsse für nicht-reglementierte Berufe deutlich vereinfacht oder abgeschafft und die Westbalkanregelung auf ausgewählte Länder ausgeweitet werden.
Quelle: Sachverständigenrat im Statistischen Bundesamt / Foto: Fotolia