Predictive Quality in der Langstahlproduktion
von Alexander Kirschbaum
Damit die Einhaltung gängiger Normen sowie die Erfüllung spezifischer Kundenanforderungen nachgewiesen werden kann, liegt die Zukunft des Qualitätsmanagements in der Prozessdigitalisierung. Die SCHMOLZ + BICKENBACH Gruppe investiert daher in Industrie-4.0-Anwendungen. Gemeinsam mit MET/Con, der Beratungsgesellschaft für metallurgische Prozesse der SMS group, wurden die Potenziale der Wertschöpfungskette bei Swiss Steel und Steeltec evaluiert. In einem Pilotprojekt implementiert nun der Stahlkonzern bis Mitte 2018 das regelbasierte Qualitätsentscheidungssystem PQA (Produktqualitätsanalyse) – eine Premiere im Bereich der Langstahlproduktion.
In den Stahlproduktions- und Verarbeitungswerken im schweizerischen Emmenbrücke löst das Softwarepaket Insellösungen ab, die bis jetzt nur einzelne Prozessschritte analysiert haben. Auch hochsignifikante Zusammenhänge zwischen Ergebnissen im Labor und an der Walzstraße waren so beispielsweise nicht erkennbar. Qualitätsentscheidungen konnten demnach bisher zwar innerhalb einer Wertschöpfungsstufe, aber nicht prozessübergreifend getroffen werden.
Von „Big Data“ zu „Smart Data“
Visualisieren, auswerten, optimieren – nach diesem Prinzip funktionieren regelbasierte Qualitätsentscheidungssysteme des sogenannten Digital Manufacturing. Durch die intelligente Datenverknüpfung über die gesamte Wertschöpfungskette werden alle Prüf- und Prozessdaten für die smarte Datenanalyse, die vorausschauende Qualitätssicherung und die Prozessoptimierung nutzbar. Dadurch eröffnen sich auch neue Potenziale in der kundenspezifischen Werkstoffentwicklung. Zu den qualitätsrelevanten Prozessparametern zählen unter anderem die chemische Zusammensetzung des jeweiligen Werkstoffs, die Temperatur beim Gießen, thermomechanische Einflussfaktoren beim Walzen, die Walzgeschwindigkeit sowie die Temperatur und die Querschnittsverminderung beim Blankstahlziehen. Die im PQA-Softwarepaket hinterlegte technische Kausalität der Datenanalytik stellen die Werkstoff- und Prozessingenieure der SCHMOLZ + BICKENBACH Gruppe her. Darüber hinaus speist der Stahlproduzent sämtliche Erfahrungswerte aus Wissensdatenbanken ein, die in kundenspezifischen Entwicklungspartnerschaften gesammelt wurden.
Mensch-Maschine-Interaktion
Für die Implementierung installiert MET/Con das PQA-Softwarepaket im Rechenzentrum am schweizerischen Werksstandort in Emmenbrücke. Für eine intelligente Datenerfassung über die gesamte Wertschöpfungskette wurden sämtliche Datenquellen berücksichtigt, vorhandene Sensorsignale überprüft und bei Bedarf weitere Detektoren installiert. Definierte Qualitätsregeln und Arbeitsanweisungen bilden die Voraussetzung für ein automatisches Qualitätsmanagementsystem und eine erfolgreiche Mensch-Maschine-Interaktion. Qualitätsrelevante Prozessschritte, die eine Bewertung vom Anlagenbediener erfordern, sind mit einem Ampelsystem ausgestattet. Auf Basis von Systemempfehlungen und der Kompetenz des Fachpersonals wird das Material für den nächsten Arbeitsschritt freigegeben.
Durch die Visualisierung von Werks- und Prozessbedingungen profitieren Swiss Steel und Steeltec von zusätzlichen Erkenntnissen über die Zusammenhänge dieser Parameter mit der Produktqualität. Dadurch steigt die Flexibilität in der Fertigung: So ist es möglich, Regeln anzupassen und einzelne Prozessschritte in Echtzeit zu beeinflussen. Beispielsweise kann die Walztemperatur variiert werden, wenn es für eine bestimmte Stahlgüte oder ein kundenspezifisches Stahlprodukt erforderlich ist.
Lückenlose Materialverfolgbarkeit
PQA begleitet jeden einzelnen Knüppel. Zunächst wird die Qualität des Vormaterials, des sortenreinen Stahlschrotts, erfasst, bevor dieses bei Swiss Steel im 80-t-Elektrolichtbogenofen geschmolzen wird. Ebenso werden die pfannenspezifischen Legierungszugaben zur Beeinflussung der Werkstoffeigenschaften erfasst. Der flüssige Stahl nimmt anschließend den Weg durch vier parallele Stranggusslinien. Durch das PQA-Softwarepaket ist es bei Qualitätsabweichungen am Knüppel möglich, präzise Rückschlüsse zu ziehen. Tritt am Anfang eines Knüppels beispielsweise ein Mangel auf, können die Parameter der Stranggießanlage angepasst werden. Die Reaktionsfähigkeit steigt. So werden der Qualitätsausschuss und die Notwendigkeit einer Nachbearbeitung im Stahlwerk reduziert.
Die Knüppel bilden das Vormaterial, aus dem im Walzwerk der Walzdraht erzeugt wird. Die gezielte Steuerung von Temperatur und Abkühlung beim Walzen spielt eine entscheidende Rolle bei der präzisen Einstellung der anwendungsspezifisch geforderten Stahleigenschaften. Das Knüppelmaterial, das aus den vier Strängen der kontinuierlichen Gießanlage entsteht, wird auf dem Abkühlbett gesammelt. Durch eine Markierung der Knüppel und die entsprechende digitale Datenerfassung ist die Rückverfolgbarkeit gegeben. Das gilt auch für die Walzdrahtfertigung im Warmwalzwerk, bei der die Drähte nach dem Walzen zu Drahtcoils gepresst werden.
Bei der Implementierung von PQA kann MET/Con optimal auf die bereits 2016 automatisierte Technik im Walzwerk aufsetzen. Durch die intelligente Datenanalyse des Coil-Handlings wurde dieser Prozessschritt bereits vollumfänglich elektronisch dokumentiert. Die Daten des Vormaterials für das Blankstahlziehen erfasst Steeltec automatisch über die Drahtcoilnummern. In einer verketteten Produktionsanlage durchläuft der Walzdraht bei Steeltec automatisiert die Prozesse vom Ziehen oder Schälen sowie Richten und Sägen bis zur Qualitätsprüfung und zur Endenbearbeitung. Die Spezialstähle erhalten nach Angaben des Unternehmens durch die lückenlose Materialverfolgbarkeit künftig ein digitales Gütesiegel und erreichen so einen höheren Qualitätslevel.
Quelle: SCHMOLZ + BICKENBACH Bildtext: PQA erfasst sämtliche Prozessparameter im Stahlwerk und beim Blankstahlziehen, wertet Zusammenhänge aus und gibt auf Basis von Regeln Empfehlungen für Qualitätsentscheidungen. (Foto: SCHMOLZ + BICKENBACH)