Mehrheit deutscher Unternehmen bewertet Standort Deutschland negativ
von Hubert Hunscheidt
Durchschnittsnote „drei minus“ (3,3) für den Industriestandort Deutschland: Das ist das Urteil von 150 deutschen Unternehmen des produzierenden Gewerbes, befragt in neun Kategorien durch das Marktforschungsinstitut Kantar Public im Auftrag der Unternehmensberatung FTI-Andersch. Die schlechtesten Noten erhält Deutschland in den Bereichen Energiepreise und -verfügbarkeit (4,0), Regulatorik und Bürokratie (4,0) sowie der Verfügbarkeit von Fachkräften (3,9). 60 Prozent der befragten Unternehmen haben angegeben, dass sich ihr Bild vom Standort Deutschland in den letzten zwei Jahren negativ verändert hat.
- Ein Viertel der befragten Unternehmen (26 Prozent) erwägt die Verlagerung von Produktionskapazitäten und -netzwerken
- 40 Prozent der Unternehmen mit konkreten Planungen für Verlagerungen zieht es Richtung Asien
- Jedes zweite befragte Unternehmen (50 Prozent) beurteilt China als attraktiven Standort
- Die Mehrheit der befragten Unternehmen (61 Prozent) hält den Standort Deutschland heute für ‚weniger attraktiv‘ (46 Prozent) oder ‚nicht attraktiv‘ (15 Prozent).
Im Bereich Energie stellen Deutschland 39 Prozent der Befragten eine mangelhafte oder ungenügende Note aus, bei der Verfügbarkeit von Fachkräften 34 Prozent sowie bei den regulatorischen Rahmenbedingungen 31 Prozent. Die besten Noten erhält Deutschland bei der Nähe zu relevanten Absatzmärkten (2,4) sowie Infrastruktur und Verkehrsanbindung (2,5).
„Dieses Bild hat das deutsche produzierende Gewerbe vom eigenen Standort“, sagt Christian Säuberlich, Senior Partner und Sprecher des Vorstands von FTI-Andersch, der auf Restrukturierung, Business Transformation und Transaktionen spezialisierten Beratungseinheit von FTI Consulting in Deutschland. „Da ist man schnell bei der Frage: Wer aus einem Drittland investiert in einen Standort, der sich selbst so negativ bewertet? Und ohne Investitionen Dritter wird es für die etablierte Wirtschaft wiederum weniger attraktiv, eigene Investitionen zu tätigen – denn Lieferketten drohen sich zu verlagern.“
Nahezu zwei Drittel der Unternehmen denken bei Produktionsausbau nicht mehr an den Standort Deutschland
Insgesamt plant eine Mehrheit der Unternehmen, weiter zu wachsen: 55 Prozent der Unternehmen wollen weitere Produktionskapazitäten auf- und ausbauen. Aber: Ein Viertel (26 Prozent) erwägen die Verlagerung von Kapazitäten und 22 Prozent priorisieren eine Konsolidierung ihrer Produktionsstandorte. Je größer dabei die Unternehmen, desto eindeutiger ihre Schritte: Bei den Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwägen aktuell 36 Prozent Verlagerungen, 34 Prozent Konsolidierungen.
Bei einem Ausbau der Produktion denken fast zwei Drittel (63 Prozent) der befragten Unternehmen an Standorte außerhalb Deutschlands, vor allem an Asien (37 Prozent, davon China 15 Prozent), Osteuropa (36 Prozent), West- und Mitteleuropa (31 Prozent) sowie Nord- und Mittelamerika (27 Prozent, davon USA 16 Prozent). Auch hier gibt es einen Unterschied zwischen Unternehmensgrößen: Bei den größeren Unternehmen ab 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern denkt die Mehrheit an Asien (54 Prozent), jedes zweite (50 Prozent) an Osteuropa und 40 Prozent an Nord-, Mittel- und Südamerika.
Diejenigen Unternehmen, die schon in konkreten Planungen sind, zieht es Richtung Asien (40 Prozent – 15 Prozent China), Ost- oder Westeuropa (jeweils 35 Prozent) oder Nord-, Mittel- und Südamerika (32 Prozent – 21 Prozent USA). Immerhin: 40 Prozent der Unternehmen planen Produktionsausweitungen auch in Deutschland.
China wird für die kommenden Jahre als attraktiverer Standort eingeschätzt
Christian Säuberlich sagt: „Was wir hier sehen, ist eine große Neuordnung von Produktionsstandorten und -netzwerken weltweit. Es ist Ländern wie den USA durch indirekte Subventionen wie den Inflation Reduction Act oder China durch gezielte Förderung von Auslandsinvestitionen gelungen, die eigene Attraktivität als Investitionsstandort weiter zu erhöhen. Für viele deutsche Unternehmen ist es betriebswirtschaftliche Notwendigkeit, künftig noch stärker zu diversifizieren und international zu investieren, wenn sie im globalen Wettbewerb bestehen wollen.“
Jedes zweite befragte Unternehmen (50 Prozent) hält China für einen attraktiven Standort (sehr attraktiv: 8 Prozent) – jetzt und in den kommenden Jahren.
„Entscheidend für das einzelne Unternehmen ist, nach einem klaren Chance-Risiko-Profil die anstehenden Investitionsentscheidungen zu treffen. Sie müssen die sich verlagernden Produktionsnetzwerke genauso wie die eigenen Absatzmärkte mit im Blick haben“, sagt Christian Säuberlich. „Auch wenn Deutschland und Europa als Absatzmärkte nach wie vor sehr wichtig sind: Politik und Verwaltung müssen in Deutschland grundsätzlich wieder bessere Rahmenbedingungen schaffen, wenn der Standort weiterhin eine Rolle bei Investitionsentscheidungen spielen soll. Und zwar so schnell wie möglich. Gelingt dies nicht, drohen mittel- bis langfristig deutliche Wohlstandsverluste.“
Quelle: FTI-Andersch AG / Foto: Fotolia