Mehrheit der Deutschen im No-Future-Modus

von Hubert Hunscheidt

Deutschlands Zukunft zwischen No-Future-Modus und Gestaltungskraft im kleinen Kreis

Zwei Drittel der Deutschen blicken ängstlich auf die gesellschaftliche Zukunft. Mangelndes Vertrauen in Staat und Institutionen sowie die Angst vor gesellschaftlicher Spaltung forcieren den Rückzug in private Nischen. Es wächst aber auch die Bereitschaft, allein oder mit Gleichgesinnten für eine lebenswerte Zukunft tätig zu werden. Das sind zentrale Erkenntnisse einer repräsentativen und tiefenpsychologischen Untersuchung des Kölner rheingold instituts in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Stiftung für Philosophie Identity Foundation in Düsseldorf. „Ich sehe in diesem Jahrhundert die Menschen vor riesigen Problemen. Dürre,
Hunger, Ressourcen-Krieg, Migrationsbewegungen in der ganzen Welt.“ (weiblich, 28 Jahre, Hamburg).

Durch die Allgegenwart schwerer Krisen ist die Bevölkerung verunsichert, das Vertrauen in eine bessere Zukunft ist fundamental erschüttert: Die Mehrheit der Deutschen befindet sich in einem „No-Future“-Modus. Gesellschaftlichen Herausforderungen und anstehenden Umbrüchen begegnet eine Mehrheit mit einer resignativen Grundhaltung. Sie glaubt nicht daran, dass die großen Probleme unserer Zeit gelöst werden können, die Leistungsfähigkeit des Staates und die Zukunftschancen Deutschlands werden sehr skeptisch beurteilt. Das Vertrauen, dass Staat, Politik, Institutionen und Parteien die Krisen lösen können, ist erodiert: Nur 26 Prozent stimmt das Wirken von Politik und Parteien optimistisch für die Zukunft. Die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Mehrheit: „Deutschland steht vor einem Niedergang“ (61 Prozent) und „durch Krisen wie Corona und den Klimawandel stehen uns drastische Veränderungen bevor“ (88 Prozent).

Viele Bürger*innen befinden sich in einem akuten Machbarkeits-Dilemma. Sie erkennen die großen Zukunftsprobleme, haben aber keine Idee, wie sich diese Jahrhundert-Herausforderungen bewältigen lassen. Daher ziehen sie sich zunehmend in ihr privates Schneckenhaus oder ihre persönlichen Nischen zurück. „Die Menschen verschanzen sich in kleinen Wirkungskreisen mit Gleichgesinnten und versuchen in ihren persönlichen Umfeldern zu retten, was noch zu retten ist“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des auf tiefenpsychologische Forschung spezialisierten rheingold instituts.

Die globale, europäische oder gesamtdeutsche Perspektive wird dabei ersetzt durch eine neue Selbstbezüglichkeit. Das eigene Ich, die Familie oder das unmittelbare soziale Umfeld stehen im Fokus. Private „NischenProjekte“, das Kümmern um die eigene Welt und das Streben nach dem persönlichen kleinen Glück stehen in der Folge hoch im Kurs. Optimismus für die Zukunft speist sich eher aus dem Glauben an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten (79 Prozent), der eigenen Familie (79 Prozent) und dem persönlichen Umfeld (81 Prozent).

Der Glaube an den vereinenden Staat und Parteien schwindet. Die größte Zukunftsangst betrifft den sozialen Klimawandel mit seiner fortschreitenden Polarisierung und dem Auseinanderdriften der Gesellschaft.

Das während der Corona- und Klimakrise erlebte Regierungshandeln wurde als unzulänglich erlebt. Dies trägt zu einem verunsicherten und teils resignierten Verhältnis zur Politik bei. Zwar sehen viele Befragte gute Voraussetzungen für eine individuell erfolgreiche Gestaltung des Lebens in Deutschland (67 Prozent), aber das Vertrauen in den sozialen Zusammenhalt erodiert zunehmend: 83 Prozent haben Angst vor einer gesellschaftlichen Spaltung, 90 Prozent beobachten eine immer stärker werdende soziale Spreizung in Arm und Reich und 91 Prozent nehmen eine zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft wahr.

Die Furcht vor einer Spaltung ist bereits im Jetzt verankert. Die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich in ihrer gegenwärtigen Lebenslage „im Stich gelassen“. 30 Prozent geben an, dass das Leben aktuell schon „schwierig und belastend“ ist. Gleichzeitig zeigt sich bei etwa einem Drittel (31 Prozent) entspannt-zurückgelehnter Wohlstandsgenuss.

Auch im Hinblick auf die konkreten privaten Zukunfts-Strategien zeigen sich bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs Zukunfts-Typen differenzieren lassen. Das Spektrum reicht von den Eingekapselten, die Zukunftsfragen am liebsten ausblenden oder die Vergangenheit verklären, über die Tribalisten, deren Aktionsradius in der Nachbarschaft oder im Verein endet, bis hin zu den Missionierenden, die sich einer weltrettenden Ideologie wie zum Beispiel dem Veganismus verschreiben.

Eine Aufbruchs-Stimmung keimt im Kleinen – ein Drittel arbeitet auf eine bessere Zukunft hin

Im Kleinen zeigt sich jedoch auch eine hoffnungsstiftende Graswurzel-Mentalität. Im eigenen Schaffen erleben viele Befragte Selbstwirksamkeit und Fortschritte. Aufbruchsstimmung, Zukunftselan und Gestaltungswille zeigt sich bei einem Drittel der Befragten im Anpacken in der eigenen Lebenswelt. Viele entwickeln das Gefühl, selbst etwas beitragen zu können und eine bessere Welt von unten zu fördern. Nachbarschaftliche Initiativen, veränderte Ernährungs- und Konsumgewohnheiten, soziale und ökologische Netzwerke oder post-kapitalistische Geschäftsmodelle finden immer mehr Aufmerksamkeit in der Welt der Befragten.

Die Landschaft dieser „Anpacker“ ist noch sehr heterogen in ihren Themen, Zielen und ihrem Lifestyle. Obwohl eine signifikante gesellschaftliche Gesamtströmung noch nicht zu erkennen ist, zeigt sich Zukunftsoptimismus im partikularen Rahmen und mit nachhaltigen Perspektiven. Dass diese vielen kleinen Pflänzchen eines neuen Gestaltungswillens in diesem Jahrzehnt zusammenwachsen könnten, das ist gegenwärtig die große Hoffnung eines ansonsten ernüchternden Bildes der Zukunftserwartung der Deutschen.

„Die Aussichtslosigkeit, die viele Menschen empfinden und das mehrheitlich beklagte politische Versagen haben wir bereits in früheren unserer Studien festgestellt“, sagt Paul J. Kohtes, Gründer der Philosophie-Stiftung Identity Foundation. „Womöglich stehen wir vor einem sehr grundsätzlichen gesellschaftlichen Perspektivwechsel und die Idee institutioneller Lösungen von oben ist ein Auslaufmodell. Interessant ist, dass inzwischen ein Drittel der Bevölkerung im Spirituellen Ermutigung findet, nicht als Weltflucht, sondern als Antrieb, sich dem Leben und seinen Herausforderungen tatkräftig zuzuwenden“, so Kohtes.

„Wir erleben eine Zeiten-Wende“, bekräftigt Grünewald. „Diese Studie beschreibt den Geist, die Unsicherheiten, die Regressions- und Progressions-Kräfte einer Übergangszeit, in der sich unsere Gesellschaft massiv verändern wird.“ Dabei sei noch offen, ob die Tendenzen zu Rückzug und weiterer Parzellierung gestärkt werden oder die Kräfte des gesellschaftlichen Zusammen-Wachsens und der Überwindung von Trennlinien durch das Aufgreifen gemeinsamer Herausforderungen.

Quelle: rheingold Institut / Foto: Dr.Klaus-Uwe Gerhard_pixelio.de

 

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