Lieferengpässe und Coronawelle bremsen deutsche Wirtschaft aus
von Hubert Hunscheidt
Im Vergleich zur ifo Konjunkturprognose Herbst 2021 wurde an der Wachstumsrate für das Jahr 2021 festgehalten. Allerdings wurde der Zuwachs für das Jahr 2022 um 1,4 Prozentpunkte gesenkt und für das Jahr 2023 um 1,4 Prozentpunkte angehoben. Die Verschiebung der konjunkturellen Dynamik vom nächsten ins übernächste Jahr ist weitgehend der vierten Coronawelle und den Produktionsschwierigkeiten im Verarbeitenden Gewerbe geschuldet.
In den kommenden Monaten dürften die anhaltenden Lieferengpässe und die vierte Coronawelle die deutsche Wirtschaft spürbar ausbremsen. Für das laufende Quartal deuten die meisten Indikatoren auf eine Abschwächung der konjunkturellen Dynamik in den kontaktintensiven Dienstleistungsbereichen hin. Sowohl die Mobilität der Bevölkerung als auch die Besuche von Gaststätten sind in den vergangenen Wochen spürbar zurückgegangen. Zudem korrigierten Einzelhändler und konsumnahe Dienstleister ihre Einschätzung zur aktuellen und zukünftigen Geschäftslage nach unten. Hinter dieser Abschwächung der wirtschaftlichen Aktivität in den Wirtschaftsbereichen des sozialen Konsums stehen vor allem freiwillige Einschränkungen der Menschen, die Ansteckungsrisiken durch Kontaktreduktion meiden. Die bislang vorliegenden Indikatoren deuten darauf hin, dass die Abschwächung deutlich geringer ausfallen dürfte als noch im vergangenen Winterhalbjahr während der zweiten und dritten Coronawelle, als die vollständige Schließung vieler Geschäfte beschlossen wurde.
Erst im Sommerhalbjahr 2022 dürfte es zu einer kräftigen Erholung und einer Normalisierung der privaten Konsumausgaben kommen. Zwar hat sich während der Coronawellen bei den privaten Haushalten eine beträchtliche Überschussersparnis aufgestaut, entweder weil Konsummöglichkeiten eingeschränkt waren oder Konsumzurückhaltung aus einem Vorsichtsmotiv heraus geübt wurde. Allerdings wird in der vorliegenden Prognose unterstellt, dass die Konsumenten diese Ersparnis nicht verausgaben. Auch bei den Lieferengpässen und den damit einhergehenden Produktionsbehinderungen wird unterstellt, dass diese sich erst im Frühjahr des kommenden Jahres allmählich auflösen. Alles in allem wird das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,5% und in den kommenden beiden Jahren um 3,7% bzw. 2,9%.
Erholung am Arbeitsmarkt vorübergehend gedämpft
Auch die Erholung am Arbeitsmarkt dürfte im Winterhalbjahr 2021/22 durch die Lieferengpässe im Verarbeitenden Gewerbe und die Auswirkungen der vierten Coronawelle vorrübergehend gedämpft werden. Aktuelle Indikatoren legen allerdings nahe, dass sowohl der Aufbau der Beschäftigung als auch der Rückgang der Kurzarbeit und der Arbeitslosigkeit in den kommenden Monat nur stagnieren dürften. Ab dem Frühjahr 2022 wird sich dann die Erholung fortsetzen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2022 um etwa 409 000 und im Jahr 2023 um 311 000 zunehmen, nachdem sie im Durchschnitt des laufenden Jahres um 97 000 über ihrem Vorjahreswert gelegen haben dürfte. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen wird in diesem Jahr wohl um etwa 79 000 zurückgegangen sein, ehe sie im kommenden Jahr um etwa 257 000 und im Jahr 2023 um etwa 124 000 sinken dürfte. In der Folge fällt die Arbeitslosenquote von voraussichtlich 5,7% in diesem Jahr auf 5,2% im Durchschnitt des Jahres 2022 und 4,9% im Jahr 2023. Die Kurzarbeit dürfte von schätzungsweise knapp 1,7 Mio. Beschäftigten im Durchschnitt des laufenden Jahres auf etwa 313 000 im nächsten und 74 000 im übernächsten Jahr zurückgehen.
Private Konsumausgaben sinken zunächst wieder
Im vierten Quartal ist mit einem Rückgang der privaten Konsumausgaben um 1,1% zu rechnen. In Einklang mit der Annahme, dass die vierte Coronawelle die kontaktintensiven Aktivitäten bis März 2022 belasten dürften, wird für das erste Quartal 2022 ein weiterer Rückgang der Ausgaben um 1,4% im Vergleich zum Vorquartal erwartet. Im Sommerhalbjahr 2022 dürfte es dann annahmegemäß zu einer kräftigen Erholung des privaten Konsums kommen. Dabei wird unterstellt, dass die Überschussersparnis, die die privaten Haushalte seit Beginn der Pandemie angesammelt haben, nicht abgebaut wird. Entsprechend wird sich im Zuge der Erholung zwar das Konsumverhalten normalisieren und das Ausgabenniveau wieder an den Verfügbaren Einkommen orientieren. Ein darüberhinausgehendes Nachholen von entgangenem Konsum in den Vorquartalen wird allerdings nicht erwartet.
Unternehmensinvestitionen zunächst weiter ausgebremst
Die Unternehmensinvestitionen haben im Sommerhalbjahr 2021 auf ihrem Weg zum Vorkrisenniveau an Fahrt verloren und bleiben volatil. Während sie im zweiten Quartal noch mit 1,7% im Vergleich zum ersten Quartal zulegten, erhielten sie im dritten Quartal mit -2,1% einen Rücksetzer. Aufgrund von weiter andauernden Materialengpässen und Lieferkettenstörungen dürfte die Erholung der Unternehmensinvestitionen im Schlussquartal des laufenden Jahres noch auf sich warten lassen. Insgesamt werden die Unternehmensinvestitionen im Jahr 2022 wohl um 3,9% zulegen, vor allem die privaten Ausrüstungsinvestitionen dürften mit 5,3% deutlich steigen. Die gewerblichen Bauinvestitionen werden mit 1,6% ebenfalls anziehen. Aufgrund der hohen Auftragsbestände wird sich diese Dynamik im Jahr 2023 noch nicht abschwächen, auch da im Zuge der gesamtwirtschaftlichen Erholung zu erwarten ist, dass aufgeschobene Investitionsvorhaben aus den Vorjahren nachgeholt werden. Die Unternehmensinvestitionen dürften daher im Jahr 2023 erneut um 4,6% steigen.
Inflation auch im kommenden Jahr hoch
Die Inflationsrate wird wohl auch nach dem Jahreswechsel hoch bleiben. Zwar fällt im Januar 2022 der Basiseffekt, der auf die temporäre Absenkung der Mehrwertsteuersätze in der zweiten Jahreshälfte 2020 zurückzuführen war, weg. Allerdings deutet die jüngste Entwicklung der Preisindikatoren darauf hin, dass die Verbraucherpreise auch im Verlauf des kommenden Jahres zunächst noch spürbar steigen dürften. Dabei spielen die mit den Lieferengpässen einhergehenden Kostensteigerungen sowie verzögerte Anpassungen an die gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise eine treibende Rolle. Daher dürfte die Inflationsrate zunächst noch einmal zunehmen von 3,1% in diesem Jahr auf 3,3% im kommenden Jahr. Erst im Jahr 2023 sollte sich der Anstieg der Verbraucherpreise wieder normalisieren und auf 1,8% zurückgehen.
Defizite im Staatshaushalt werden geringer
Die Finanzpolitik war im laufenden Jahr durch die Maßnahmen zur Bekämpfung Corona-Pandemie noch einmal deutlich expansiv ausgerichtet. Im Laufe des Jahres 2022 werden die meisten pandemiebedingten Maßnahmen vorrausichtlich auslaufen und dürften dann im Jahr 2023 keine fiskalische Relevanz mehr haben. Somit ist im Prognosezeitraum mit einem deutlich restriktiven Kurs zu rechnen. Im laufenden Jahr wird das staatliche Finanzierungsdefizit bei voraussichtlich 162 Mrd. Euro liegen. Im weiteren Prognosezeitraum erholt sich der Staatshaushalt, wird allerdings sowohl im nächsten als auch im übernächsten Jahr mit einem Defizit von gut 80 bzw. 20 Mrd. Euro abschließen. Der Maastricht-Schuldenstand wird im Jahr 2021 durch die expansive Fiskalpolitik vermutlich auf 70% des Bruttoinlandprodukts steigen. In den kommenden Jahren wird er durch die sinkenden Finanzierungsdefizite und dem steigenden Bruttoinlandsprodukt wieder deutlich unter die 70%-Marke fallen, mit 64% im Jahr 2023 dennoch knapp fünf Prozentpunkte über dem Vorkrisenniveau liegen.
Weltwirtschaft: Maßgeblich von Pandemie bestimmt
Die Corona-Pandemie und die Lieferengpässe werden die Entwicklung der Weltwirtschaft auch im Prognosezeitraum bestimmen. Die Lage der Pandemie ist weltweit recht heterogen. Waren im Sommer die USA und Teile Südostasiens betroffen, stieg das Infektionsgeschehen im anlaufenden Winter in Europa. In den meisten Ländern werden hier wohl wieder gesundheitspolitische Maßnahmen gesetzt, die die wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten einschränken. In Ländern mit hohen Impfquoten wie Portugal, Malta und Spanien dürften die Einschränkungen geringer ausfallen, sofern das Nachlassen des Impfschutzes durch Folgeimpfungen kompensiert wird. Dem dadurch bedingten Konjunktureinbruch in Europa wird wohl eine kräftige Erholung folgen, wie die Erfahrung mit früheren Pandemiewellen zeigt. Teure Stützungsmaßnahmen bewirken jedoch einen Anstieg der öffentlichen Verschuldung, die sehr viel langsamer abgebaut wird als die Wertschöpfungslücke.
Lieferengpässe und Knappheiten haben sich, entgegen früheren Annahmen, in den letzten Monaten noch nicht aufgelöst. Der Anteil der Unternehmen, der Materialmangel als produktionshemmend wahrnimmt, ist vielmehr gestiegen. Anpassungen in Produktionsabläufen, eine Entschärfung der Pandemielage und preisliche Allokationsmechanismen sollten den Nachfrageüberhang über den Prognosezeitraum jedoch entschärfen. Darauf deutet auch hin, dass die Unternehmensstimmung in den meisten Ländern mehrheitlich optimistisch ist. Somit dürften die teilweise sehr hohen Auftragsbestände zu einer maßgeblichen Beschleunigung der Investitionsdynamik führen. Darüber hinaus resultiert das robuste Wachstum der Weltwirtschaft im Prognosezeitraum aus einer akkommodierenden Geld- und Finanzpolitik.
Die aktuelle Inflationsdynamik wird mit dem Abbau des Nachfrageüberhangs abklingen und die Geldpolitik somit nicht wesentlich beeinträchtigen. Diese wird eher durch die realwirtschaftliche Entwicklung geprägt. Aufgrund der weit fortgeschrittenen Erholung in den USA wird die Fed den Ankauf von Wertpapieren reduzieren. Die Zinssätze dürften aber erst in der zweiten Hälfte 2022 angehoben werden, da die US-Notenbank eine weitere Verbesserung der Arbeitsmarktlage anstrebt. Zwar ist der krisenbedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit praktisch wieder abgebaut, aber die Erwerbsbeteiligung liegt in den USA noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Die EZB dürfte das eigens zur Krisenbekämpfung aufgelegte Programm für Anleihekäufe wohl, wie geplant, im März 2022 beenden. Der Anleiheankauf aus anderen, seit längerem bestehenden Programmen laufen danach weiter, mit einem Zinsschritt wird im Prognosezeitraum nicht gerechnet. Dies trifft auch auf die japanische Notenbank zu, die den Umfang von Anleiheankäufe zudem flexibel handhabt.
Die Finanzpolitik wird akkommodierend bleiben. Werden wirtschaftliche Aktivitäten durch die Corona-Pandemie eingeschränkt, wie derzeit durch Schließungsmaßnahmen in einigen Ländern Europas, werden weiterhin staatliche Stützungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt bzw. weitergeführt. Der bisherige Pandemieverlauf hat gezeigt, dass die dadurch erzielte Stützung der privaten Einkommen zu einer starken Erholung beiträgt. Entsprechend der Annahme, dass pandemiebedingte Einschränkungen mit zunehmendem Impffortschritt abnehmen, wird sich auch die Inanspruchnahme der Stützungsprogramme verringern. Es werden aber neue expansive finanzpolitische Impulse gesetzt, insbesondere in den USA. Das Infrastruktur- und Investitionsgesetz stellt in den nächsten 10 Jahren 550 Mrd. Dollar an neuen Ausgaben bereit. Im Rahmen des Build Back Better Gesetzes, das Elemente des American Job Plans und des American Families Plans enthält, sollen weitere finanzpolitische Maßnahmen gesetzt werden.
Alles in allem dürfte das Bruttoinlandsprodukt der Welt in den Jahren 2022 und 2023 um +4,3% bzw. +3,2% expandieren, im Euroraum um 3,9% bzw. 3,0%. Die Verbraucherpreise dürften in diesen Jahren weltweit um 3,4% bzw. 2,2% steigen, im Euroraum um 3,2% bzw. 1,6%.
Risiken
Pandemieverlauf
Inflationsentwicklung
Insolvenzen von Unternehmen
Lieferengpässe bei Vorprodukten und Rohstoffen
Finanzpolitische Ausrichtung
Bildtext: Prof. Dr. Timo Wollmershäuser, Stellvertretender Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen und Leiter Konjunkturprognosen.
Quelle und Foto: ifo Institut