Grüne Welle für die Stahlindustrie
von Hubert Hunscheidt
An nichts weniger als einem historischen Technologiewechsel arbeitet die Stahlindustrie bereits. Die Direktreduktion auf Wasserstoffbasis wird als sauberes Produktionsverfahren die konventionelle Herstellungsmethode ersetzen – hier sind sich die Experten einig. Die Stahlherstellung, die auf Kohlenstoff basiert, wird ihren Platz als wichtigstes Verfahren verlieren.
Ziel der Stahlbranche ist es, die Emissionen bis 2030 um rund 30 Prozent zu senken. Eine Entwicklung, auf die auch die Draht-, Kabel- und Rohrbranchen achten. Denn für sie ist klimafreundlich hergestellter Stahl als Basis für ihre Produkte auch ein Aspekt, um selbst ökologisch und wettbewerbsfähig zu sein. Die grüne Transformation erfasst alle Industriebereiche – vom Zulieferer bis zum Anwender.
Die europäische Stahlindustrie verursacht 5,7 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union – womit die Reduktion der Emissionen eine Mammutaufgabe darstellt. Bis 2050 muss sie klimaneutral produzieren. Das gibt das Pariser Klimaabkommen von 2015 vor. Aber die Stahlbranche hat sich bereits auf den Weg gemacht.
Stahlindustrie als Weichensteller
Wie zum Beispiel thyssenkrupp Steel. „Wenn die Produktion spätestens 2045 auf klimaneutralen Stahl umgestellt ist, werden wir der größte einzelne europäische Abnehmer von CO2-neutralem Wasserstoff sein“, zeigt sich Dr. Arnd Köfler, Chief Technology Officer (CTO), selbstbewusst. Grundsätzlich werde die Stahlindustrie einer der Hauptabnehmer für grünen Wasserstoff sein. Was sie wiederum „zum Weichensteller“ mache, um Wasserstofftechnologien als Schlüssel zur Dekarbonisierung zu etablieren.
thyssenkrupp Steel will bereits in diesem Jahrzehnt 30 Prozent CO2 einsparen. Dazu sollen vier Hochöfen schrittweise ab 2025 durch mit grünem Wasserstoff betriebene Direktreduktionsanlagen ersetzt werden, jeweils ergänzt durch Einschmelzaggregate, um aus dem festen Rohmaterial flüssiges Roheisen zu machen. Für die Umsetzung sind laut thyssenkrupp bis 2030 zwei Milliarden Euro und für den kompletten Umstieg bis zu acht Milliarden Euro an Investitionen notwendig.
Kooperationen zur Dekarbonisierung
Auch die Salzgitter AG hat die Dekarbonisierung ihrer Prozesse und Produkte eingeleitet. Sie plant den Produktionsstart von CO₂-armem Stahl auf einer neuen Produktionsroute ab Ende 2025. „Erwarteter CO2-Einspareffekt nach Abschluss der Transformation: Mehr als 95 Prozent“, erklärt das Unternehmen.
Für die Forcierung der Dekarbonisierung geht Salzgitter Kooperationen ein. Der Konzern und Uniper haben eine Vereinbarung geschlossen: Dabei soll das SALCOS®-Projekt, das Teil der Strategie „Salzgitter AG 2030“ ist, zur Produktion von klimafreundlichem Stahl mit grünem Wasserstoff durch das internationale Energieunternehmen Uniper versorgt werden. SALCOS® – Salzgitter Low Co₂-Steelmaking – ist ein Transformationsprogramm, um die Produktion auf eine wasserstoffbasierte Route umzustellen.
In Wilhelmshaven entwickelt Uniper zwei Projekte mit grünem Wasserstoff. Hier plant das Unternehmen ein Importterminal, das Ammoniak in Wasserstoff zurückverwandelt. Außerdem ist eine Großelektrolyse vorgesehen, die mit einer Leistung von bis zu 1.000 MW grünen Wasserstoff erzeugen wird. Dazu soll eine Direktanbindung von neu zu errichtenden Offshore-Windparks in der Nordsee geprüft werden.
CO₂-armer Stahl für die Autoindustrie
Mit der Volkswagen AG hat Salzgitter bereits die Lieferung von CO₂-armem Stahl ab Ende 2025 vereinbart. Volkswagen plant, diesen Stahl in Zukunftsprojekten wie dem E-Modell Trinity 1 einzusetzen. Der Auto-Konzern möchte sich darauf konzentrieren, die CO2-Emissionen dort zu reduzieren, wo sie bei der Fertigung eines Automobils schwerpunktmäßig entstehen. „Das ist neben dem batterieelektrischen Antriebsstrang und Aluminiumbauteilen vor allem beim Werkstoff Stahl der Fall“, erklärt der Konzern. Für Volkswagen ist die Senkung der CO2-Emissionen in der Lieferkette „ein zentraler Baustein, um im Rahmen der Konzernstrategie goTOzero bis 2050 schrittweise zum bilanziell klimaneutralen Mobilitätsanbieter zu werden“.
Außerdem soll zwischen Volkswagens Stammwerk in Wolfsburg und dem integrierten Hüttenwerk in Salzgitter ein geschlossener Wertstoffkreislauf für Stahl eingerichtet werden. Volkswagen stellt hierbei die Stahlreste der Produktion wieder der Salzgitter AG zur Verfügung, die sie einschmilzt, zu neuen Stahlprodukten verarbeitet und für die Autofertigung nach Wolfsburg liefert.
Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur
ArcelorMittal will bis 2050 eine CO2-neutrale Stahlproduktion an seinen europäischen Standorten erreichen, bereits bis 2030 sollen die Emissionen um 30 Prozent gesenkt werden. „Die deutschen Flachstahlstandorte in Bremen und Eisenhüttenstadt sind umfassend in die Konzernstrategie zur Klimaneutralität eingebunden“, erklärt das Unternehmen. Zwei Hochöfen werden an den Standorten umgerüstet, um Erdgas einzublasen und damit die CO₂-Emissionen zu reduzieren. Mit dem geplanten Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur in Deutschland beabsichtigt ArcelorMittal bis 2026 den Bau einer großindustriellen Anlage zur Direktreduktion von Eisenerz (DRI) in Bremen und einer DRI-Pilotanlage in Eisenhüttenstadt in Kombination mit Elektrolichtbogenöfen.
Eigene Prozessgase und Wasserstoff
Mit „H2Syngas“ setzen Saarstahl und Dillinger gemeinsam mit dem zur SMS group gehörenden Engineering-Unternehmen Paul Wurth auf die Nutzung von eigenen Prozessgasen und den Einsatz von erheblichen Wasserstoffmengen im Hochofenprozess. Die entsprechende Pilotanlage wurde in Kooperation mit Paul Wurth gebaut.
„Das neue von Paul Wurth entwickelte Verfahren – die so genannte Trockenreformierung – ermöglicht die Umwandlung von dem in der Kokerei entstandenen Kokereigas in ein heißes Reduktionsgas oder Synthesegas“, erläutert Saarstahl. Dieses werde, mit Wasserstoff angereichert, dann als Reduktionsmittel für die Reduktion der Eisenerze eingesetzt. Die Eindüsung des heißen Reduktionsgases in den Hochofen führt „zu einer erheblichen Verringerung des Koksverbrauchs und damit zu einer Reduzierung der CO₂-Emissionen“.
Grüne Transformation ist auch digital
Die grüne Transformation hat also bereits längst begonnen und setzt sich hohe Ziele – sie benötigt aber die digitale Unterstützung. Laut ifo Institut ist die digitale Transformation der Energiewirtschaft – und damit letztlich auch der Stahlindustrie – ein integraler Bestandteil der Energiewende. Sie sei eines der größten IT-Projekte aller Zeiten. Künftig werden viele neue und dezentrale Produzenten erneuerbarer Energieformen auf den Markt kommen. „Diese müssen ans Netz angeschlossen und ihre schwankende Produktion muss ausgesteuert werden. Somit werden die Versorger große Datenströme managen müssen, zum Beispiel Daten zur Einspeisung oder zum lokalen Verbrauch“, erklärt das ifo Institut. Die Digitalisierung unterstützt also nicht nur eine effiziente Produktion, sondern auch eine nachhaltige Verteilung der Energie an die Unternehmen der Stahlindustrie. Eine Mammutaufgabe, die es nun zu lösen gilt.
Die Aussteller von wire und Tube 2022 sind darauf vorbereitet und präsentieren vom 20. bis 24. Juni 2022 neue technologische Lösungen aus den Bereichen der Draht-, Kabel- und Rohrindustrie auf dem Düsseldorfer Messegelände.
Quelle und Fotos: Messe Düsseldorf GmbH