Folgen des russisch-ukrainischen Krieges dämpfen deutsche Konjunktur
von Hubert Hunscheidt
Das Basisszenario geht nur von einer vorübergehenden Zunahme der Rohstoffpreise, Lieferengpässe und Unsicherheit aus. Im Alternativszenario verschärft sich die Situation zunächst noch, bevor ab der Jahresmitte eine allmähliche Entspannung einsetzt. Unter diesen Annahmen dürfte das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr nur noch um 3,1% (Basisszenario) bzw. 2,2% (Alternativszenario) zulegen und damit spürbar weniger als bislang erwartetet (3,7%). Im kommenden Jahr dürfte das Wachstum dann bei 3,3% (Basisszenario) bzw. 3,9% (Alternativszenario) liegen.
Die deutsche Konjunktur wurde im Winterhalbjahr 2021/22 durch zwei weitere Corona-Wellen belastet. Allerdings waren die wirtschaftlichen Folgen deutlich geringer als noch in den vorangegangenen Wellen. Zwar brach die Wirtschaftsleistung am Jahresende 2021 in den konsumnahen Dienstleistungsbereichen ähnlich stark ein. Die Umsätze konnten sich jedoch bereits im Januar 2022 und damit deutlich früher als noch ein Jahr zuvor erholen. Daher standen die Chancen zunächst gut, dass die deutschen Wirtschaft mit einem kräftigen Auftakt in das Jahr startet. Dazu trug auch die deutsche Industrie bei, die den Wachstumskurs, den sie im vierten Quartal 2021 nach einer längeren Durststrecke eingeschlagen hatte, bis in den Februar fortsetzen konnte.
Die Eskalation des russisch-ukrainischen Konflikts und der Ausbruch des Krieges am 24. Februar änderte die wirtschaftliche Lage auch in Deutschland.
Die Weltmarktpreise vieler Rohstoffe sind drastisch gestiegen. Anders als erwartet ist die Inflationsrate seit Jahresbeginn nicht zurückgegangen. Vielmehr haben die Verbraucherpreise und insbesondere die Preise für Energie und Nahrungsmittel weiter mit kräftigen Raten zugelegt. Dies reduziert die Kaufkraft vieler Haushalte und dämpft die Erholung der Konsumkonjunktur.
Eine Reihe von Sanktionen gegen Russland wurden beschlossen. Diese dürften u.a. den Warenhandel und damit die Produktion und das Exportgeschäft deutscher Unternehmen beeinträchtigen.
Aufgrund des Krieges kommt es zu Produktionsausfällen in der Ukraine. Damit dürften sich die Lieferengpässe bei der Beschaffung von Vorprodukten verschärfen und die Erholung der industriellen Wertschöpfung in Deutschland weiter schleppend verlaufen.
Die Unsicherheit hat deutlich zugenommen, da die Dauer und der Ausgang des Krieges sowie die weitere Entwicklung der Sanktionen gegen Russland schwer abzuschätzen sind. Dies schlägt sich nicht zuletzt in der hohen Volatilität der aktuellen und erwarteten Börsenpreise für Energieträger nieder, was die Ausgabebereitschaft von Unternehmen und Haushalten für Investitionen und langlebige Konsumgüter zusätzlich belasten dürfte.
Insgesamt dürfte die Wirtschaftsleistung im ersten Quartal 2022 gestiegen sein. Erst im März hat es einen konjunkturellen Dämpfer gegeben, der die positive Gesamtbilanz des Winterquartals trüben dürfte. So hat wohl die Industrieproduktion einen kräftigen Rückschlag erhalten, weil eine Reihe gewichtiger Unternehmen ihre Produktion gedrosselt und die Kurzarbeit hochgefahren haben. Auch die Einzelhandelsumsätze dürften unter den stark gestiegenen Energiepreisen gelitten haben. Insgesamt gehen durch den Anstieg der Verbraucherpreise allein im 1. Quartal Kaufkraft im Umfang von schätzungsweise etwa 6 Mrd. Euro verloren.
Der Ausblick auf die kommenden Monate ist von unterschiedlichen konjunkturellen Triebkräften geprägt. Auf der einen Seite dürfte die Konjunktur durch eine kräftige Nachfrage gestützt werden. Die Auftragsbücher der Industrieunternehmen sind so voll wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Selbst wenn Russland als Absatzmarkt wegbricht, können die Unternehmen andere Aufträge abarbeiten, so dass kurzfristige Auswirkungen der Sanktionen eher gering bleiben dürften. Einen kräftigen Schub sollte es zudem durch die Normalisierung des privaten Konsums geben, wenn sich die Corona-Situation im Lauf des Frühjahrs verbessert. In vielen kontaktintensiven Dienstleistungsbereichen sind die Umsätze aktuell immer noch deutlich niedriger als vor Ausbruch der Coronakrise, so dass dort ein erhebliches Aufholpotenzial besteht. Auf der anderen Seite dämpfen die Folgen des russisch-ukrainischen Krieges die deutsche Konjunktur. Das Ausmaß der Auswirkungen hängt allerdings maßgeblich von der weiteren Entwicklung der Rohstoffpreise, der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland, der Lieferengpässe bei Rohmaterialien und Vorprodukten sowie der wirtschaftlichen Unsicherheit ab. Um diesen Unwägbarkeiten über den weiteren Konfliktverlauf Rechnung zu tragen, wurden für die Prognose zwei Szenarien in Betracht gezogen.
Zwei Szenarien
Im Basisszenario haben die Rohstoffpreise ihren Hochpunkt bereits hinter sich gelassen und sinken in den kommenden Monaten allmählich. Dabei wurden für den weiteren Verlauf der Marktpreise für Rohöl, Erdgas und wichtige Nahrungsmittel die Terminkurse vom 11. März verwendet. Im Einklang mit diesen Erwartungen dämpfen die Lieferengpässe und die Unsicherheit die deutsche Konjunktur auch nur vorübergehend. Im Alternativszenario hingegen spitzt sich die Situation in den kommenden Monaten weiter zu. Die Marktpreise für Energie steigen zunächst weiter und erreichen ihren Hochpunkt erst zur Jahresmitte. Danach beginnen sie zwar zu sinken, bleiben aber bis zum Ende des Prognosezeitraums spürbar über den Markterwartungen. Bis Mitte des Jahres dämpfen zudem eine hohe wirtschaftspolitische Unsicherheit sowie eine weitere Verschärfung der Lieferengpässe.
Steigende Rohstoffpreise treiben Inflationsrate
Als Folge der gestiegenen Rohstoffpreise wird die Inflationsrate in diesem Jahr mit 5,1% (Basisszenario) bzw. 6,1% (Alternativszenario) deutlich höher liegen als noch im Dezember im Rahmen der ifo Konjunkturprognose Winter 2021 erwartet. Im kommenden Jahr dürfte sich der Anstieg der Verbraucherpreise zwar wieder verlangsamen, aber mit etwa 2% immer noch deutlich höher sein als in den Jahren vor der Coronakrise. Dazu trägt auch bei, dass in den anstehenden Tarifverhandlungen zumindest ein teilweiser Ausgleich des inflationsbedingten Kaufkraftverlusts zu erwarten ist. Daher dürften im kommenden Jahr die Tariflöhne mit 3% vergleichsweise kräftig zulegen.
Zudem dürften die Erhöhungen des Mindestlohns im Juli und im Oktober vor allem preistreibend wirken, sofern ähnliche Auswirkungen wie bei der seiner Einführung im Jahr 2015 unterstellt werden. Die diesjährigen Erhöhungen dürften die Lohneinkommen in diesem und im kommenden Jahr zusätzlich um 0,3 bzw. 0,7% steigen lassen, wodurch die Inflationsrate für sich genommen um 0,05 bzw. 0,34 Prozentpunkte höher ausfallen dürfte. Inflationssenkend wirkt hingegen der Wegfall der EEG-Umlage, die den Strompreis ab Juli 2022 um etwa 10% reduzieren dürfte. Dadurch sinkt die Inflationsrate in diesem und im kommenden Jahr um jeweils knapp 0,2 Prozentpunkte.
Privater Konsum bleibt Stütze der Konjunktur
Die konjunkturelle Dynamik wird sich in beiden Szenarien spürbar verlangsamen. Zwar bleibt der private Konsum nach wie vor die Stütze der deutschen Konjunktur mit preisbereinigten Zuwächsen von 5,0% (Basisszenario) bzw. 3,7% (Alternativszenario) in diesem Jahr. Die hohe Inflation dämpft jedoch die privaten Konsumausgaben. Auch die Industriekonjunktur schwächt sich spürbar ab und erfährt insbesondere im Sommerhalbjahr einen Dämpfer. Im Alternativszenario kommt es sogar zu einem Rückgang der industriellen Wertschöpfung im zweiten Quartal 2022. Zudem nehmen die Ausgaben für Investitionen in Ausrüstungen und sonstige Anlagen sowie die Warenexporte spürbar langsamer zu als noch im Dezember erwartet.
Schwächere Konjunktur hinterlässt Spuren am Arbeitsmarkt
Beschäftigungsaufbau und der Rückgang der Arbeitslosigkeit werden sich ab dem Frühjahr spürbar verlangsamen. Da allerdings die Erholung am Arbeitsmarkt im Winterhalbjahr 2021/2022 deutlich schwungvoller verlief als noch im Dezember erwartet, liegt die Anzahl der Erwerbstätigen in diesem Jahr höher und die Anzahl der Arbeitslosen niedriger als in der ifo Konjunkturprognose Winter 2021 erwartet.
Im kommenden Jahr nimmt die Arbeitslosigkeit wieder geringfügig zu. Darin schlägt sich nieder, dass in der vorliegenden Prognose die Zuwanderung von 1 Million Flüchtlingen aus der Ukraine berücksichtigt wurde. Kurzfristig erhöhen sich dadurch zwar vor allem die staatlichen Transferzahlungen sowie die öffentlichen Konsumausgaben. Für das Jahr 2023 wurde allerdings unterstellt, dass dem Arbeitsmarkt zusätzlich 100.000 Personen zur Verfügung stehen, von denen ein bedeutender Anteil nicht unmittelbar eine Beschäftigung finden wird.
Risiken
Die vorliegende Prognose ist mit einer Reihe von Risiken verbunden. Hohe Unsicherheit besteht vor allem im Hinblick auf den weiteren Verlauf des russisch-ukrainischen Krieges. Zwar wurde mit der Formulierung zweier Szenarien bereits ein mögliches Spektrum der Folgen für die deutsche Wirtschaft abgedeckt. Allerdings sind weitere Krisenszenarien denkbar. Insbesondere könnte es zu einer Unterbrechung der Energielieferungen aus Russland kommen, die kurzfristig einen weit größeren wirtschaftlichen Schaden verursachen würde.
Zudem steigen seit Anfang März die Corona-Neuinfektionen wieder kräftig. Zwar fallen gerade wie erwartet die meisten Corona-Einschränkungen weg. Dennoch ist es möglich, dass aufgrund des hohen Infektionsgeschehens VerbraucherInnen vorsichtig agieren und sich die Normalisierung des Konsums langsamer vollzieht als in der vorliegenden Prognose unterstellt. Allerdings könnte sich der private Konsum auch schneller erholen, wenn die während der Coronakrise angehäufte Überschussersparnis verausgabt und damit nachfragewirksam wird.
Quelle: ifo Institut / Foto: Fotolia