Die Drehteilhersteller zerspanen bleifreie Stähle
von Hubert Hunscheidt
Kann Blei in metallischen Werkstoffen ersetzt werden? Diese Frage ist im Moment schwierig zu beantworten. Deshalb bleibt der zerspanenden Industrie nichts anderes übrig, als weiter nach Lösungen für die wirtschaftliche Bearbeitung bleifreier Automatenstähle zu suchen.
Blei ist toxisch und gefährlich, wenn es in den menschlichen Organismus oder in die Umwelt gelangt. In Metallen ist es dagegen gebunden und stellt bei der Zerspanung von Automatenstahl keine Gefährdung dar. Bei den Endprodukten, die bleihaltige Komponenten enthalten, kann das allerdings anders aussehen. Um die Anwender zu schützen, schreibt die RoHS-Richtlinie (Restriction of Hazardous Substances) vor, dass die Hersteller von Elektro- und Elektronikgeräten definierte Grenzwerte nachweislich einhalten müssen. Diese wiederum fordern entsprechende Belege von ihren Zulieferern. Damit ist die zerspanende Industrie indirekt von der offiziell 2011/65/EU lautenden Richtlinie betroffen. Sie muss die materialspezifischen Vorgaben in eine wirtschaftliche Produktion umsetzen.
Verunsicherung durch RoHS und REACH
Aktuell dürfen laut RoHS-Richtlinie bis zu 0,35 Prozent Blei in Stählen enthalten sein. Die Anträge für die Verlängerung dieser Ausnahmeregelung sind seit 2020 eingereicht – die Entscheidung aus Brüssel steht immer noch aus. Das heißt, für die Hersteller von Drehteilen verändert sich erstmal nichts: Solange es keine neuen Vorgaben gibt, dürfen sie weiterhin Stähle verarbeiten, die Blei in geringen Mengen enthalten.
„Wie lange das noch so bleiben wird, wissen wir nicht. Deshalb sind wir auf alles vorbereitet“, sagt Thilo Karrenberg vom Verband der Deutschen Drehteile-Industrie. Neben der ungeklärten Situation mit der RoHS-Richtlinie sorgt auch die Aufnahme von Blei in die REACH-Kandidatenliste für große Unsicherheit. „Sollte es hier zur Zulassungspflicht kommen, wäre spätestens 2030 Schluss mit bleihaltigen Automatenstählen“, bestätigt Karrenberg. Im Moment sind aber alle bislang erlaubten Anwendungen unverändert möglich. Die Zerspaner müssen die nachgeschalteten Anwender lediglich informieren, dass Blei im Bauteil enthalten ist.
Spagat zwischen Prozesssicherheit und Wirtschaftlichkeit
Der Verband der Deutschen Drehteile-Industrie geht mit dem Thema „mit oder ohne Blei“ konstruktiv um. Er unterstützt seine Mitglieder durch den internen Austausch, bereitet relevante Informationen auf, wirkt aber auch an verschiedenen Projekten und Forschungsgruppen zu bleifreien Automatenstählen mit (s. Infokasten).
„Die Frage, ob und wie Blei in metallischen Werkstoffen ersetzt werden kann, ist nicht eindeutig zu beantworten“, weiß Thilo Karrenberg. Als Geschäftsführer der Hugo Karrenberg & Sohn GmbH & Co. KG hat er Erfahrung mit der Bearbeitung bleifreier Stähle. Kunden fordern bei ihm zunehmend bereits Neuteile ohne Blei an: „Die Anwender sind komplett verunsichert und oft auch nicht ausreichend informiert. Sie wollen auf bleifrei umstellen, obwohl das eigentlich gar nicht nötig ist“, ergänzt Karrenberg. Ein weiteres Problem sind die vorhandenen Drehmaschinen – bestimmte Prozesse, die mit bleihaltigen Materialien funktionieren, lassen sich nicht eins zu eins auf die neuen Werkstoffe übertragen.
Fest steht: Die alternativen Stähle können ihren bleihaltigen Konkurrenten in puncto Nachhaltigkeit und Effizienz (noch) nicht das Wasser reichen. „Wenn wir auf Blei verzichten, geht das zu Lasten der Wirtschaftlichkeit und führt damit zu höheren Kosten in der Lieferkette“, erklärt Thilo Karrenberg. Wird Blei hinzulegiert, erleichtert das den Spanbruch, bildet einen Schmierfilm, reduziert die Zerspanungskräfte und schont die Werkzeuge. Außerdem lassen sich gute Oberflächengüten erreichen. Karrenberg bringt das Problem auf den Punkt: „Ohne Blei verschlechtert sich die Zerspanbarkeit, zudem erhöhen sich Energie- und Werkzeugverbrauch, weil für bleifreie Stähle höhere Schnittkräfte anfallen.“
Der Verband der Deutschen Drehteile-Industrie plädiert für einen ausreichend langen Umstellungszeitraum, der sich an den Investitionszyklen und nicht an Verfallsdaten von Ausnahmeregelungen orientiert. „Wir brauchen Planungssicherheit, und natürlich wäre esam besten, wenn wir gebundenes Blei in Stählen weiterhin verwenden können“, betont Thilo Karrenberg abschließend. Gut vorbereitet sind die Zerspaner auf jeden Fall – bei der nächsten Mitgliederversammlung stehen die bleifreien Automatenstähle wieder auf der Agenda.
Quelle und Fotos: Verband der Deutschen Drehteile-Industrie im Fachverband Metallwaren- und verwandte Industrien (FMI) e.V.