Brexit: Britische Stahlindustrie am Scheideweg

von Alexander Kirschbaum

Auf dem vom MBI veranstalteten Stahltag nahm Dr. Heinz-Jürgen Büchner, Managing Director Industrials, Automotive Services, IKB Deutsche Industriebank, die Situation der europäischen Stahlindustrie unter die Lupe. "Stahlindustrie 3 Monate nach dem Brexit: Welche Szenarien können eintreten?" lautete der Vortrag des Branchenexperten am 21. September in Frankfurt am Main.

Zunächst ging Büchner auf die Verflechtung der britischen Wirtschaft und der EU ein. Demnach erfordert der geringe Industrieanteils Großbritanniens hohe Importe einer breiten Palette von Wirtschaftsgütern. Im Vergleich zu Deutschland (30,4 %) liegt der Industrieanteil der britischen Wirtschaft nur bei 19,9 %. Die britische Wirtschaft verzeichnete vor dem Brexit-Votum zwar eine dynamische Entwicklung, doch der geplante EU-Austritt hat sehr stark auf die Stimmung geschlagen. Bei den ausländischen Direktinvestitionen dürfte es laut Büchner zu einem Rückgang kommen.

Die Importe aus der EU nach Großbritannien sind seit 2008 deutlich gestiegen, auf Deutschland entfällt ein Anteil von rund 15 %. Gegenüber der EU verbucht Großbritannien ein Außenbilanzdefizit von rund 86 Milliarden Pfund. Betrachtet man den Außenhandel, sind die Briten deutlich stärker vom Brexit betroffen als die Europäische Union. So ist der britische Beitrag für die Wertschöpfung deutscher Branchen, wie dem Maschinenbau, überschaubar. Demgegenüber ist der Wertschöpfungsprozess der britischen Industrie deutlich stärker auf deutsche Zulieferer angewiesen, wie Büchner in seinem Vortrag deutlich machte. Zudem profitiert Großbritannien von der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU, besonders im Produzierenden Gewerbe sind im erheblichen Maße ausländische Arbeitnehmer beschäftigt.

Britische Rohstahlproduktion im Sinkflug

Wie der Branchenexperte feststellte, ist die britische Rohstahlproduktion bis Ende Juli 2016 um über 36 % eingebrochen und liegt mittlerweile deutlich unter dem Niveau des Krisenjahres 2009. Ein Grund ist die Schließung des Stahlwerks Teesside. Die weitere Entwicklung der britischen Stahlproduktion ist besonders abhängig davon, ob die Stahlwerke von Tata Steel erfolgreich verkauft werden. Eine Lösung für die britischen Standorte von Tata Steel ist derzeit noch in der Schwebe.

Großbritannien ist im großen Maße von Stahleinfuhren abhängig. Dabei stammten laut Büchner rund 70 % der Stahleinfuhren zuletzt aus Ländern der Europäischen Union. Vor allem beschichtete und nichtbeschichtete Bleche sowie Stahlrohre sind stark nachgefragt. Im Zuge der einbrechenden Inlandsproduktion steigt die Abhängigkeit von Importen weiter an. Die sinkende britische Stahlproduktion dürfte sich künftig weiter auswirken: einbrechende Exporte und steigende Einfuhren wären die Folge.

Umbruch oder Niedergang?

Die derzeit noch existierenden britischen Stahlwerke befinden sich nahezu vollständig in ausländischer Hand. Tata Steel ist derzeit dabei, sich von seinen britischen Stahlaktivitäten zu trennen. Vor dem Brexit hatte die Regierung Cameron zugesagt, Anteile von Tata Steel UK zu erwerben sowie finanzielle Hilfen in Aussicht gestellt. Ob sich die neue Regierung an die Zusagen hält, ist derzeit unklar, auch vor dem Hintergrund eines fairen Wettbewerbs.

Drei mögliche Szenarien für die britische Stahlindustrie

Zum Abschluss seines Vortrages warf der Referent drei mögliche Zukunftsszenarien auf. Erstens könnte nach einem EU-Austritt Großbritanniens das Modell Schweiz/Norwegen Anwendung finden. Demnach erhält die britische Wirtschaft weiterhin freien Zugang zum Binnenmarkt, gewährleistet aber im Gegenzug weiterhin freien Zugang zum britischen Arbeitsmarkt und überweist Beiträge an Brüssel. Für die britische Stahlindustrie fallen keine Zölle an.

Zweitens könnte die britische Stahlindustrie künftig wie diejenige eines Drittlands nach den Regeln der WTO behandelt werden. Zoll- und Lieferbeschränkungen könnten laut Büchner die Folge sein. Zudem dürften die EU-Stahlhersteller bei größeren Subventionen in die britische Stahlindustrie auf Handelsschutzmaßnahmen bestehen.

Drittens könnte dem Branchenexperten zufolge das Modell "Free Rider" nach den Austrittsverhandlungen zum Tragen kommen. Bei diesem Modell erhält die britische Wirtschaft weiterhin uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt, ohne Beiträge an Brüssel zu zahlen und die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu gewährleisten. In diesem Szenario hätte Großbritannien die Möglichkeit, die heimische Wirtschaft dank der eingesparten EU-Überweisungen kräftig zu subventionieren. Zudem könnte das Vereinigte Königreich aus dem EU-Emissionshandel (ETS) aussteigen und seiner Industrie damit einen Wettbewerbsvorteil sichern. Für die EU-Stahlindustrie wäre es schwierig, einen unfairen Wettbewerb zu unterbinden. Für den Experten der IKB Industriebank wäre eine Partnerschaft ähnlich dem Modell Schweiz/Norwegen die beste Lösung für eine vernünftige Zusammenarbeit.

Quelle: marketSTEEL, Präsentation Dr. Heinz-Jürgen Büchner, Managing Director Industrials, Automotive Services, IKB Deutsche Industriebank, am 21. September MBI-Stahltag, Bildtext: Der 11. MBI-Stahltag bot zahlreiche Vorträge und spannende Diskussionen. (Foto: marketSTEEL)

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