Autozulieferer baut bis zu 4.400 Stellen ab
von Hubert Hunscheidt
Der weltweit tätige Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler hatte bereits im Jahr 2018 angesichts der sich abzeichnenden technologischen und regulatorischen Veränderungen sowie geänderter Kundenanforderungen begonnen, seinen europäischen Werkeverbund anzupassen, die Organisation zu verschlanken und stärker auf die Bedürfnisse der Sparten auszurichten. Vor diesem Hintergrund wurde im November 2018 die Präsenz in Großbritannien um drei Standorte reduziert. Zudem wurde im Frühjahr 2019 in der Sparte Automotive OEM das Effizienzprogramm RACE etabliert, dem im Verlauf desselben Jahres die Spartenprogramme GRIP (Automotive Aftermarket) und FIT (Industrie) folgten. Im Rahmen von RACE wurden seitdem unter anderem die drei Automotive-Standorte Hamm, Unna und Kaltennordheim verkauft. Ferner wurde im September 2019 noch vor Ausbruch der Coronakrise ein zusätzliches Freiwilligenprogramm aufgelegt, das sich aktuell in der Umsetzung befindet.
Die Zahl der Beschäftigten der Schaeffler Gruppe hat sich seit Ende 2018 um rund 8.250 Stellen von 92.478 auf 84.223 per Ende Juni 2020 verringert, was einem Rückgang um knapp 9 Prozent entspricht. Die genannten Maßnahmen sind dabei bisher nur teilweise in den Beschäftigtenzahlen reflektiert.
Zusätzliches Paket von strukturellen Maßnahmen mit zwei Stoßrichtungen
Auf die in den Monaten Februar/März 2020 einsetzende Coronavirus-Pandemie und die hiermit verbundenen starken Nachfragerückgänge in allen drei Sparten reagierte die Schaeffler Gruppe zunächst mit kurzfristig orientierten Gegensteuerungsmaßnahmen, so dass das Unternehmen bislang vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist. Neben einer Ausweitung des europäischen Freiwilligenprogramms von 1.300 auf 1.900 Stellen, von denen 1.700 auf Deutschland entfallen, nutzte Schaeffler temporäre Maßnahmen, wie zum Beispiel Schließtage, den Abbau von Zeitkonten und Urlaubstagen sowie die Einführung von Kurzarbeit.
Trotz einer Belebung der Nachfrage in allen drei Sparten und vier Regionen in den letzten Monaten, bleibt die Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Pandemie und die daraus resultierende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage hoch. Zudem deuten die Markt- und Umsatzerwartungen für den Zeithorizont bis 2025 auf eine langsame Erholung hin, was strukturelle Unterauslastungen der Produktionswerke zur Folge hat. Insbesondere der Automobilsektor, der sich bereits zuvor in einem Strukturwandel hin zur E-Mobilität befand, wird durch die Coronakrise hart getroffen. Die für das Jahr 2020 erwartete globale Produktion von Fahrzeugen liegt mit minus 20 Prozent signifikant unter Vorjahr. Ein Erreichen des Vorkrisenniveaus wird frühestens 2024 erwartet. Aber auch die globale Industrieproduktion wird im Jahr 2020 mit schätzungsweise minus 8 bis minus 12 Prozent deutlich rückläufig sein.
In Anbetracht der wirtschaftlichen Lage sind daher neben temporären Maßnahmen, die auch weiterhin voll ausgeschöpft werden, zusätzliche strukturelle Maßnahmen zwingend erforderlich.
Auf dieser Basis hat der Vorstand der Schaeffler AG auf Gruppenebene und im Rahmen der Spartenprogramme ein zusätzliches Maßnahmenpaket verabschiedet, um die Transformation der Schaeffler Gruppe zu beschleunigen und ihre Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit nachhaltig zu verbessern. Das Maßnahmenpaket hat zwei Stoßrichtungen. Erstens, den Abbau von strukturellen Überkapazitäten und die Konsolidierung von Standorten in Europa mit dem Schwerpunkt Deutschland sowie, zweitens, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und den Ausbau von lokalen Kompetenzen an ausgewählten deutschen Standorten. Die strukturellen Maßnahmen, die bis Ende 2022 weitgehend umgesetzt sein sollen, betreffen im Wesentlichen zwölf Standorte in Deutschland und zwei weitere Standorte in Europa.
Kapazitätsabbau und Konsolidierung von Standorten
Vom Kapazitätsabbau und der Konsolidierung sind neben den Großstandorten Herzogenaurach, Bühl, Schweinfurt, Höchstadt und Homburg vor allem Standorte mit einem technologisch auslaufenden Produktportfolio oder kleinteiligen Werksstrukturen betroffen. Zu letzteren gehören die Produktionsstandorte Wuppertal, Luckenwalde und Eltmann, der Schaeffler-Engineering-Standort in Clausthal-Zellerfeld sowie die Aftermarket-Betriebsstätten Hamburg und Köln.
Im Hinblick auf den Standort Wuppertal ist nach mehrjähriger Prüfung sämtlicher Optionen eine Standortschließung nicht mehr auszuschließen. Gleichwohl soll versucht werden, im Zuge einer Teilverlagerung der Produktion so viele Arbeitsplätze wie möglich in Deutschland zu erhalten. Für den Standort Luckenwalde ist eine Teilverlagerung von Aktivitäten geplant. Gleichzeitig wird aktiv nach alternativen Nutzungs- und Verkaufsmöglichkeiten gesucht. Die Produktion am Standort Eltmann wird nach Schweinfurt verlagert. Der überwiegende Anteil der Arbeitsplätze soll damit in geographischer Nähe erhalten bleiben. Bereits heute produziert Eltmann im Wesentlichen für den Standort Schweinfurt, so dass es sich faktisch um eine Integration der Produktion handelt. Der Standort Clausthal-Zellerfeld wird geschlossen, sofern sich kurzfristig keine Verkaufsmöglichkeit ergibt. Den Beschäftigten der Aftermarket-Betriebsstätten Hamburg und Köln wird angeboten, soweit möglich, künftig aus dem Home-Office heraus zu arbeiten.
Zudem ist vorgesehen, die Verwaltungsbereiche der Zentralfunktionen und der Sparten zu reduzieren. Die betrifft vor allem die Standorte Herzogenaurach, Schweinfurt, Bühl sowie Homburg.
Genauere Angaben zu den Planungen an den jeweiligen Standorten werden in lokalen Mitarbeiterversammlungen vorgestellt. Finale Ergebnisse können dabei erst nach dem Abschluss der Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern über die notwendigen Interessenausgleiche kommuniziert werden.
Insgesamt sind in Europa vom Abbau netto rund 4.400 Stellen betroffen, von denen der weitaus größte Anteil auf Deutschland entfällt. Alle drei Sparten und alle Zentralfunktionen tragen zu den Maßnahmen bei.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Ausbau von lokalen Kompetenzen
Als zweiter Bestandteil des Maßnahmenpakets bündelt die Schaeffler Gruppe lokale Technologie- und Produktionskompetenzen an den Standorten Herzogenaurach, Höchstadt, Bühl und Schweinfurt und stärkt damit die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens sowie ausgewählte Standorte in Deutschland. Der Sitz der Sparte Automotive Aftermarket in Langen wird zudem durch Personaltransfers ausgebaut.
Am Standort Herzogenaurach, dem Hauptsitz der Schaeffler Gruppe, wird unter anderem neben dem Aufbau eines hochmodernen Zentrallabors zukünftig das Kompetenzzentrum für Wasserstofftechnologie angesiedelt. Höchstadt erhält ein Kompetenzzentrum für den Werkzeugbau, das die vorhandenen Kapazitäten aus Herzogenaurach übernimmt. Im Gegenzug werden die Aktivitäten der Sparte Industrie von Höchstadt nach Schweinfurt verlagert, so dass Höchstadt ein reiner Automobil-Standort wird.
Der Standort in Bühl, Sitz der Sparte Automotive OEM, wird als Kompetenzzentrum für E-Mobilität und die Serienfertigung von Elektromotoren ausgebaut. In diesem Zusammenhang werden zusätzlich 500 Stellen in Bühl entstehen, die in der ursprünglichen Planung zunächst für den Standort Szombathely in Ungarn vorgesehen waren. Der Aufbau des Werkes in Ungarn ist davon nicht betroffen. Schweinfurt, Sitz der Sparte Industrie, wird durch die Bündelung der Wertschöpfung für die klassischen Lagerprodukte im mittleren- und großen Durchmesserbereich eine klare Stärkung der Kompetenz erhalten. Gestärkt wird auch die Hauptentwicklungsaktivität für Zukunftsfelder der Sparte Industrie, wie zum Beispiel der Bereich Robotik. Zudem wird ein Innovationszentrum für gruppenweite Industrie-4.0-Themen errichtet. Zusätzlich ist der Ausbau des Bereichs Aerospace-Spezialprodukte vorgesehen.
Daneben steht das AKO-Logistik-Zentrum in Halle kurz vor der Inbetriebnahme. In Halle werden mit Unterstützung der Schaeffler Gruppe bei einem externen Dienstleister rund 600 Arbeitsplätze mit Tarifbindung geschaffen.
250-300 Millionen Euro Einsparpotenzial, freiwerdendes Kapital wird in Deutschland für Zukunftsinvestitionen eingesetzt
Das Maßnahmenpaket soll zu einem Einsparpotenzial in Höhe von 250-300 Millionen Euro p.a. führen, das 2023 zu 90 Prozent realisiert sein soll und in etwa hälftig auf die Sparten Automotive OEM und Industrie entfällt und nur zu einem geringen Teil auf die Sparte Automotive Aftermarket. Diesem stehen Transformationsaufwendungen in Höhe von rund 700 Millionen Euro gegenüber, von denen voraussichtlich der Großteil als Rückstellung im Jahr 2020 gebucht werden soll. Das im Zuge der Umsetzung des heute vorgestellten Maßnahmenpakets freiwerdende Kapital wird in Deutschland in Zukunftsgeschäfte und -technologien reinvestiert.
Sozialverträgliche Umsetzung auf Basis der Zukunftsvereinbarung
Die Umsetzung des Maßnahmenpakets erfolgt sozialverträglich auf Basis der Zukunftsvereinbarung, die das Unternehmen 2018 mit der IG Metall abgeschlossen hat. Das Unternehmen befindet sich mit den Arbeitnehmervertretern in einem konstruktiven Dialog mit dem Ziel, die strukturellen Maßnahmen mithilfe eines Mix von unterschiedlichen Instrumenten zu realisieren.
„Wir haben frühzeitig alle notwendigen Schritte unternommen, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Trotzdem sind angesichts der Marktentwicklung weitere Maßnahmen unvermeidlich, um die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Schaeffler Gruppe langfristig zu verbessern. Das vom Vorstand heute hierfür vorgestellte Paket trägt dazu bei, diese Ziele zu erreichen“, sagte Klaus Rosenfeld, der Vorsitzende des Vorstands der Schaeffler AG. Mit Blick auf die Umsetzung betonte er: „Als Vorstandsteam wollen wir die Transformation der Schaeffler Gruppe so sozialverträglich und partnerschaftlich wie möglich gestalten. Dafür haben wir 2018 eine Zukunftsvereinbarung geschlossen, die weiterhin gilt. Als Familienunternehmen sind wir uns bewusst, dass der Strukturwandel und die Transformation der Schaeffler Gruppe nur dann gelingen wird.“
Quelle und Vorschaufoto: Schaeffler Technologies AG & Co. KG