Wie steht es um die Energiesicherheit?

von Dagmar Dieterle

Interview marketSTEEL mit Alexander Lück, Vice President Marketing & Sales VNG Handel & Vertrieb GmbH

 

marketSTEEL: Gas und Energie sind aktuell ganz zentrale Themen in Deutschland. Daher die große Frage: Wie steht es im Moment um die Energiesicherheit und ist Deutschland als Standort von energieintensiven Industrien nach wie vor gesichert?

Erdgas war in den vergangenen Jahren ein spannender Krimi. Wir als VNG waren gewissermaßen im Auge des Sturms, da wir unmittelbar von dem Wegfall russischer Energielieferungen in Folge des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine betroffen waren und erhebliche Ersatzbeschaffungskosten stemmen mussten. Mit Hilfe unserer Shareholder ist es uns letztlich gelungen, die ausbleibenden Lieferungen zu substituieren und diese außerordentlich herausfordernde Zeit vergleichsweise gut zu meistern. Gesamtwirtschaftlich gesehen kann man sagen: Wir haben weniger Erdgas verbraucht und über den schnellen Aufbau einer LNG-Infrastruktur neue Transportwege für Flüssigerdgas nach Europa geschaffen.

Seit Jahresbeginn ist die Situation ein wenig entspannter, da zusätzliche Kapazitäten vorhanden sind. So hat VNG beispielsweise erst kürzlich einen Gasliefervertrag mit dem algerischen Energieunternehmen SONATRACH geschlossen, welcher in den kommenden Jahren eine Erdgasbelieferung aus Nordafrika per Pipeline nach Deutschland ermöglicht. Der Bezug des algerischen Pipelinegases ist eine zusätzliche Diversifizierung unseres Beschaffungsportfolios und leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit.

Was die Preise anbelangt, ist es eine andere Sache: Zwar sind diese in Folge des warmen Winters 2023/24 stark gesunken, es ist aber zu erwarten, dass Erdgas insgesamt etwas teurer bleiben wird als vor dem Krieg. Die Erwartung der Branche ist, dass ab dem Jahr 2027 ein relatives Überangebot an Erdgas bestehen wird. Das liegt daran, dass Investitionszyklen in diesem Bereich relativ träge sind und viele Entscheidungen, die in den letzten Jahren getroffen wurden, z. B. für LNG-Exportprojekte sowie Import- und Produktionskapazitäten, ab 2027 in die praktische Umsetzung gehen. Dementsprechend halten wir folgende Szenarien für wahrscheinlich: Sollte es in der Ukraine einen Friedensschluss vor dem Jahr 2027 geben, dann wird im gesamten Energiesystem wieder sehr viel Gas verfügbar sein. Passiert dies nicht, können zumindest die fehlenden Liefermengen aus Russland spätestens im Laufe des Jahres 2024 vollständig kompensiert werden.

marketSTEEL: Stichwort Wasserstoff: Wie sieht der Zeitplan zur Umstellung der bestehenden Gas- auf eine Wasserstoffinfrastruktur konkret aus? Bei VNG wurden bereits einige spannende Pilotprojekte auf den Weg gebracht. Sind das zurzeit noch eher Modellprojekte oder gibt es bereits eine klare Perspektive, wann Energieprojekte von Gas auf Wasserstoff umgestellt werden?

Es ist vollkommen klar: Will man ein bestehendes System im Ganzen umstellen, wie es langfristig von der Gas- hin zur Wasserstoffwirtschaft geplant ist, dann wird nicht alles auf Anhieb gelingen und wir werden auch die ein oder andere Enttäuschung erleben. Hier brauchen wir viel Ausdauer und einen langen Atem.

Die entscheidende Frage ist jedoch nicht, ob wir auf Wasserstoff umstellen, sondern eher wann wir das tun. Das Gesamtenergiesystem in Europa lässt nur einen Schluss zu: Wir können nicht alle Verbraucher elektrifizieren. Und selbst wenn das möglich wäre, könnten wir Europa nicht komplett autark mit Strom versorgen. Deshalb braucht es alternative Energieträger, die besser und günstiger in großen Mengen gespeichert und effizienter transportiert werden können als Strom - und da sind Erdgas, Wasserstoff, aber bspw. auch Biomethan gut geeignet.

Wie die Umstellung in der Praxis konkret realisiert werden kann, testen wir bereits im Rahmen verschiedener Forschungs- und Innovationssprojekte entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Von der Erzeugung, dem Import und Transport über die Speicherung bis hin zum ersten großen Liefervertrag für Grünen Wasserstoff - in den vergangenen Jahren haben wir uns an diversen Grüngasprojekten beteiligt und ein vielfältiges Projektportfolio geschaffen. Unser Fokus liegt dabei sowohl im Bereich der inländischen Produktion von grünem Wasserstoff als auch auf dem Import von blauem sowie grünem Wasserstoff und Derivaten. Darüber hinaus treiben wir den Aufbau einer CO2-Infrastruktur aktiv voran und eruieren verschiedene Transportoptionen. Unsere Überzeugung ist es, dass Wasserstoff im Wesentlichen über Pipelines geliefert werden wird. Natürlich schauen wir uns alternativ auch Trailerbelieferungen an, doch schon ab einer relativ niedrigen Mengengrenze lohnen sich Pipelines sehr schnell.

Unser Engagement in der Forschung zu regenerativen Gasen ist mit einem hohen Investitionsbedarf verbunden, aber auch der entscheidende Faktor, um den Hochlauf erneuerbarer Energieträger in Deutschland schnellstmöglich zu realisieren. Dabei ist es für uns essentiell, verschiedenste Szenarien und Optionen zu erproben, da wir heute noch nicht genau wissen, welche Technologien, Prozesse und Strategien sich zukünftig im Markt durchsetzen werden.

Blauer Wasserstoff kann an dieser Stelle eine wesentliche Rolle als Beschleuniger einnehmen. Sinnbildlich gesprochen lässt sich folgender Vergleich aufstellen:  Die teuerste Autobahn ist die, die nur von einem Sonntagsfahrer in der Woche befahren wird. Genauso ist es bei Wasserstoff: Wir rüsten die bestehenden Erdgaspipelines bereits jetzt um, damit aber ein funktionierender Markt entstehen kann, nützt es nichts, eine einzige Pipeline umzustellen. Stattdessen müssen alle Pipelines umgebaut werden - und zwar alle zur gleichen Zeit und sie müssen auch noch alle voll sein. Das bedeutet, dass wir uns der Umstellung zur Zeit nur in begrenztem Umfang und in kleinen Schritten nähern können. Irgendwann müssen wir den Sprung jedoch wagen und große Teile des bestehenden Pipelinenetzwerks umrüsten.

marketSTEEL: Gibt es auch Möglichkeiten, dieselbe Infrastruktur gleichzeitig für Gas und Wasserstoff zu nutzen?

Es besteht die Möglichkeit, Gas-Wasserstoffgemische durch die vorhandenen Gaspipelines zu transportieren. Die Brenneigenschaften des gemischten Gases sind jedoch andere als die von reinem Wasserstoff oder Erdgas. Da diese abweichenden Brenneigenschaften viele Prozesse zum Nachteil verändern würden, wird der Ansatz, den Wasserstoffanteil im Gas sukzessive zu vergrößern, nicht weiterverfolgt.

Es verbleiben daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen neue Pipelines für den Transport von Wasserstoff entlang der bestehenden Gasinfrastruktur gebaut werden oder das bestehende Leitungsnetz muss auf Wasserstoff umgerüstet werden. Eine solche Umstellung der Gastransportleitung auf ein Wasserstofftransportnetz erproben wir derzeit beispielsweise im Rahmen unseres Reallabors „Energiepark Bad Lauchstädt“.  

marketSTEEL: Dass Gas langfristig durch Wasserstoff ersetzt wird und dafür die bestehende Gasinfrastruktur genutzt wird, ist also beschlossene Sache?

Ja, genau. Relativ im Verborgenen ist in dieser Hinsicht über die letzten Jahre bereits einiges passiert und die ersten Weichen für den Umbau eines funktionierenden Wasserstoffkernnetzes wurden gestellt. So haben die Netzbetreiber beispielsweise eine große Inventur durchgeführt. Einige der Gaspipelines sind Jahrzehnte alt und dementsprechend galt es zunächst festzustellen, inwieweit die bestehenden Netze überhaupt wasserstofftauglich sind.

marketSTEEL: An welchen konkreten Projekten arbeitet VNG aktuell? Sind das einzelne Vorzeigeprojekte mit schönen Folien oder markieren sie bereits den Anfang einer fundamentalen Transformation?

Wir sind auf dem Weg hin zur grünen Transformation des Energiesystems ganz vorne mit dabei und haben bereits einige mutige Investitionsentscheidungen getroffen. Zum Beispiel im Rahmen unseres Innovationsprojekts Energiepark Bad Lauchstädt. Der finale Gesetzesrahmen, die Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, steht derzeit noch aus, sodass wesentliche regulatorische Fragestellungen aktuell noch nicht mit Sicherheit beantwortet werden können. Während andere Marktteilnehmer angesichts dieser Unsicherheiten im Hinblick auf Regulatorik und politische Rahmenbedingungen noch eher vorsichtig agieren, haben wir im Juni 2023 bereits mit der baulichen Umsetzung des Energieparks in Bad Lauchstädt begonnen und somit den Startschuss für die Produktion und Speicherung sowie den Transport und die Nutzung von grünem Wasserstoff in Mitteldeutschland gesetzt.

Neben der inländischen Produktion von grünem Wasserstoff werden wir jedoch auch signifikante Volumina an blauem sowie grünem Wasserstoff und Derivaten aus internationalen Quellen importieren müssen, um den zukünftigen Bedarf in Deutschland decken zu können. Eine nachhaltige Energiezukunft wird daher letztlich nur durch eine enge Zusammenarbeit aller Akteure, auf nationaler als auch internationaler Ebene, realisiert werden können. Aus diesem Grund treiben wir im Rahmen verschiedener Kooperationsprojekte gemeinsam mit unseren Partnern den Markthochlauf grüner Gase in Europa voran.

Ein wichtiges Vorhaben ist in diesem Zusammenhang unser Projekt Chile, in dem wir gemeinsam mit dem französischen Multi-Energieunternehmen TotalEnergies den Import von Wasserstoff aus Chile nach Deutschland untersuchen. Im Rahmen unseres Projekts H2GE Rostock eruieren wir außerdem gemeinsam mit der norwegischen Equinor den Import, die Produktion und den Vertrieb von blauem Wasserstoff und Ammoniak.

Ammoniak wir im Zuge des Markthochlaufs für Wasserstoff als wichtiges Transportmedium des Energieträgers fungieren. Daher ist das Cracking von Ammoniak - also die Umwandlung von Ammoniak in Wasserstoff und Stickstoff - ein Schlüsselprozess für die zukünftig nachhaltige Energieversorgung. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir im Rahmen unseres Projekts AZAN gemeinsam mit dem japanischen Energiekonzern JARA die Errichtung eines Ammoniak-Crackers im Hafengebiet Rostock.

Wir beteiligen uns also bereits aktiv in verschiedenen Grüngas- und Wasserstoffprojekten, um die Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen Wasserstoffhochlauf zu erproben und damit den Weg in eine klimaneutrale Energiewirtschaft erfolgreich mitzugestalten.

 

Fotos: VNG, fotolia, pixabay (gas flame, Steven Magnascan) und marketSTEEL

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