Verkauf des italienischen Ilva-Werkes: gut oder schlecht für Verarbeiter?
von Dagmar Dieterle
Während am EU-Flachstahlmarkt der Preistrend im Juni klar nach unten zeigt, wurde auf der Anbieterseite ein wichtiger Schritt hin zu einer Neuordnung getan: das größte italienische Stahlunternehmen Ilva wird an ein Konsortium unter Führung des Weltmarktführers ArcelorMittal verkauft. Damit fand eine jahrelange Hängepartie ihren Abschluss. Für europäische Stahlverarbeiter sind die Folgen ambivalent. Einerseits nimmt die ohnehin schon geringe Zahl der EU-Flachstahlanbieter weiter ab und der von Italien ausgehende Preisdruck dürfte spürbar schwächer werden. Andererseits soll die Ilva-Erzeugung wieder steigen und das Angebot an höherwertigen Stahlgüten mit Verwendung zum Beispiel im Automotive-Bereich dürfte zunehmen.
Die italienische Regierung teilte Anfang Juni mit, dass das Joint-Venture AM Investco den Zuschlag beim Verkauf des größten Stahlunternehmens des Landes erhalten hat. Getragen wird das neue Gemeinschaftsunternehmen zu 85% vom Weltmarktführer ArcelorMittal und zu 15% vom italienischen Unternehmen Marcegaglia. Mit einer Erzeugung von 5,6 Mio. Tonnen jährlich gehört Marcegaglia zu den weltweit größten Stahlverarbeitern, der vor allem als Weiterauswalzer in der ersten Verarbeitungsstufe von Flachstahl ein wichtiger Player ist. Das Unternehmen sichert sich nun den Zugriff auf einen seiner wichtigsten Lieferanten.
Der rivalisierende Bieter Accia Italia unter Führung des indischen Herstellers JSW Steel geht trotz eines nochmals nachgebesserten Angebots leer aus. Mit der mehrmals verzögerten Entscheidung findet eine jahrelange Hängepartie um den größten italienischen Stahlstandort ihr Ende. Das Unternehmen Ilva stand 2012 kurz vor der Schließung. Gründe dafür waren Verstöße gegen Umweltvorschriften, damit in Verbindung gebrachte Krankheits- und Todesfälle sowie Korruptionsvorwürfe. Seit 2013 führen staatlich eingesetzte Verwalter die Geschäfte. Neben Umweltschutzaspekten stand das Bemühen um den Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze im Mittelpunkt der nun abgeschlossenen Verhandlungen. Der vereinbarte Kaufpreis liegt bei 1,8 Mrd. €. Das Käufer-Konsortium hat Investitionen von 2,4 Mrd. € zugesagt, davon sollen 1,3 Mrd. € der Verbesserung von Hochöfen, Stahlwerken und Walz- bzw. -Veredelungsanlagen dienen. Ein beträchtlicher Betrag von 1,1 Mrd. € soll für umweltschutzbezogene Investitionen verwendet werden. Davon stammen fast 300 Mio. € aus dem vor Jahren beschlagnahmten Vermögen der früheren Eigentümer-Familie Riva.
Positiv ist zunächst einmal, dass das Unternehmen künftig wieder privatwirtschaftlich geführt wird. Die jahrelange staatliche Leitung war nicht nur vielen europäischen Wettbewerbern ein Dorn im Auge. Auch die Außenwirkung für die EU-Stahlindustrie war nicht gerade positiv, fordert man doch mit Blick auf China gerne und vehement, dass die staatliche Unterstützung für marode Stahlwerke eingestellt werden müsse.
Für Stahlverarbeiter in der EU ist die Entscheidung von großer Bedeutung, ändert sich dadurch die Anbieterstruktur am Flachstahlmarkt sich erheblich. Das zu Ilva gehörende integrierte Hüttenwerk in Taranto ist das einzige in Italien und zugleich mit 11 Mio. Tonnen Rohstahlkapazität das Werk mit der höchsten Produktionskapazität in Europa. Bei Ilva handelt es sich nach Produktionszahlen von 2016 um den hinter ArcelorMittal, ThyssenKrupp und Tata Steel viertgrößten Player am EU-Flachstahlmarkt. Nicht ohne Grund steht das Projekt unter dem Vorbehalt der europäischen Kartellbehörden. Wie hoch diese Hürde ist, wird am Markt unterschiedlich beurteilt. Vor allem bei überzogenen Blechen vereinen ArcelorMittal und Marcgegalia schon jetzt eine sehr starke Position, die an die kritische 40%-Marke stoßen könnte. Kommt es dann noch zu dem derzeit zwischen den Unternehmen verhandelten Zusammenschluss von Tata und Thyssen, wird sich der ohnehin schon oligopolistisch geprägte EU-Flachstahlmarkt drastisch verengen. Aus Verarbeitersicht wäre es daher aus Gründen des Wettbewerbs sicher besser gewesen, wenn mit JSW ein neuer zusätzlicher Player den Zuschlag bekommen hätte.
Neben der schrumpfenden Anbieterzahl dürfte sich noch ein weiterer Umstand tendenziell preiserhöhend auswirken: Derzeit werden zwischen 60 und 70% des italienischen Flachstahlbedarfes durch Importe gedeckt, wie es in einer Mitteilung der Käufer heißt. Marcegaglia war, gerade in den vergangenen Jahren im Zuge der sinkenden Ilva-Mengen, ein maßgeblicher Importeur von Stahl aus Drittstaaten, und reagierte schnell auf Preisänderungen am Weltmarkt. Insgesamt war der italienische Markt – der nach Deutschland zweitgrößte Markt der EU - aufgrund des hohen Importanteils ein wichtiger Transmissionsriemen zwischen internationalen und europäischen Preisen. Dies gilt umso mehr, da auf der Anbieterseite häufig ein mengenorientiertes Absatzverhalten zu beobachten war. Im Ergebnis war in der Vergangenheit das Preisniveau in Italien fast immer günstiger als in den meisten anderen EU-Ländern.
Je nach Standpunkt besteht nun die Hoffnung oder Befürchtung, dass ArcelorMittal in Italien ein „europäisches“, also höheres Preisniveau durchsetzen wird. Ob das zu 100% gelingt, ist nicht sicher. Denn heute sind zum Beispiel auch in den östlichen EU-Ländern die Preise häufig niedriger als hierzulande. Künftig dürfte es für Stahlkunden in Deutschland jedenfalls schwieriger werden, günstigere Preise südlich der Alpen für sich selbst direkt zu nutzen oder wenigstens mit Verweis darauf gut zu verhandeln.
Nicht gleichzusetzen ist der Ilva-Verkauf dagegen mit der häufig geforderten Konsolidierung im Sinne von Kapazitätskürzungen. Die Walzstahlerzeugung soll nach Angaben der Käufer von derzeit ca. 6 Mio. Tonnen bis zum Jahr 2023 auf 9,5 Mio. Tonnen erhöht werden, wobei die Rohstahlproduktion zunächst aus Umweltschutzgründen auf 6 Mio. Tonnen beschränkt bleibt. Mit der später vorgesehenen Nutzung des derzeit ruhenden Hochofens Nr. 5 könnte die Rohstahlerzeugung auf 8 Mio. Tonnen steigen. Dann würde in Taranto fast wieder die Rohstahlerzeugung von 2011 erreicht, die bei ca. 8,5 Mio. Tonnen gelegen hatte.
Nicht nur die Erzeugungsmengen, sondern auch das hergestellte Qualitätsspektrum und die Zuverlässigkeit sollten sich unter Führung von ArcelorMittal in den kommenden Jahren bessern. Über allgemeine Industrieverwendungen hinaus dürfte das Angebot an höheren Stahlgüten zum Beispiel für die Automobilindustrie zunehmen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Ilva-Verkauf aus Verarbeitersicht als Fortschritt zu werten.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult. Foto: StahlmarktConsult
Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.