TATA Steel Nederland fordert klare europäische Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Zukunft der europäischen Industrie

von Dagmar Dieterle

Die Stahlindustrie steht an einem Wendepunkt: Dekarbonisierung, Wettbewerbsdruck, Importe aus Nicht-EU Ländern und sinkende Nachfrage stellen Unternehmen vor immense Herausforderungen. Tata Steel Nederland hat sich das Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu werden. Im Interview mit marketSTEEL erklärt Hans van den Berg, CEO von Tata Steel Nederland mit integriertem Standort in IJmuiden in den Niederlanden, welche politischen Maßnahmen auf europäischer Ebene erforderlich sind, um diesen Wandel zu unterstützen und warum grüne Innovationen auch auf einen fairen Wettbewerb angewiesen sind.

Herr van den Berg, Tata Steel Nederland hat sich mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Welche politischen Rahmenbedingungen sind erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen?

Die Transformation hin zur Klimaneutralität ist komplex. Für Tata Steel bedeutet dies, den Produktionsprozess grundlegend zu verändern, während gleichzeitig weiterhin Stahl auf traditionelle Weise hergestellt wird. Zudem müssen unsere hohen Qualitätsstandards konstant gewahrt bleiben.

Doch die Herausforderung ist auch eine politische: Die Transformation der europäischen Industrie setzt voraus, dass Unternehmen im Wandel – wie Tata Steel Nederland – gezielt unterstützt werden. Beispielsweise durch finanzielle Maßnahmen und beschleunigte Genehmigungsverfahren. Darüber hinaus ist die Schaffung der passenden Rahmenbedingungen entscheidend: Dazu gehören eine ausreichende Produktion erneuerbarer Energien, wettbewerbsfähige Netzgebühren und der Aufbau eines Marktes für klimafreundliche Produkte wie grünen Stahl. All diese Maßnahmen erfordern ein europaweites „Level-Playing-Field“, das gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleistet – nicht nur bei Energiekosten, sondern auch bei Steuern und potenziellen Steuererleichterungen. Dies geschieht in einem schwierigen Umfeld, in dem die europäische Stahlindustrie aufgrund des Wettbewerbs aus Drittländern – insbesondere unserer strategischen Konkurrenten – unter erheblichem Druck steht.

marketSTEEL: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die Dekarbonisierung, und wie könnten die europäischen Entscheidungsträger dazu beitragen, diese zu bewältigen?

Wie ich bereits erwähnt habe, ist eine der zentralen Herausforderungen der unfaire Wettbewerb durch Dumpingstahl, der in Nicht-EU-Ländern produziert wird. Der europäische Markt wird mit billigem Stahl überschwemmt, und die derzeitigen handelspolitischen Schutzinstrumente der EU reichen oft nicht aus, um dem wirksam entgegenzuwirken. Dadurch entsteht ein erheblicher Preisdruck, der es den europäischen Herstellern erschwert, die Kosten ihrer Dekarbonisierungsbemühungen in die Stahlpreise einzubeziehen. Um diesem Problem entgegenzuwirken, ist es dringend erforderlich, die bestehenden Schutzmechanismen, einschließlich der Antidumpingmaßnahmen und der Stahlschutzmaßnahmen, zu stärken. Darüber hinaus müssen wir sicherstellen, dass die Wirksamkeit des Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) deutlich verbessert wird, da die Reduzierung der kostenlosen CO2-Rechte die weltweiten Wettbewerbsbedingungen für energieintensive Industrien erheblich beeinträchtigen wird.

Angesichts der Herausforderungen, mit denen die gesamte europäische Stahlindustrie konfrontiert ist, muss die Europäische Kommission einen Aktionsplan für den Stahlsektor verabschieden, der darauf abzielt, die unmittelbaren Probleme der Industrie zu lösen und den sauberen Wandel der Stahlunternehmen zu erleichtern.

marketSTEEL: Grüner Wasserstoff ist ein wichtiger Bestandteil der europäischen Dekarbonisierungsstrategie. Welche konkreten Schritte sollte die europäische Politik unternehmen, um die Produktion und Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff in Europa zu fördern?

Die grünen Stahlwerke, die Tata Steel bauen wird, sind so konzipiert, dass sie "wasserstofffähig" sind und zunächst mit Erdgas betrieben werden. Durch den Einsatz von Erdgas in den neuen Anlagen können wir unsere CO2-Emissionen um fünf Millionen Tonnen senken. Unser Ziel ist es, Erdgas so schnell wie möglich durch grünen Wasserstoff zu ersetzen, um die Nutzung fossiler Brennstoffe schrittweise einzustellen. Danach werden wir die verbleibenden CO2-Emissionen an unserem Standort reduzieren. Zu diesem Zweck untersuchen wir auch Alternativen zu grünem Wasserstoff wie Biomethan, Carbon Capture Storage (CCS) sowie blauen Wasserstoff, um grünen Stahl zu erzeugen. Insbesondere die Niederlande haben ein großes Potenzial für diese Technologien, vorausgesetzt, wir investieren in den notwendigen Ausbau der Infrastruktur, um ihre Entwicklung zu unterstützen.

Leider sind die Kostenerwartungen für grünen Wasserstoff im Jahr 2030 in den letzten vier Jahren immer pessimistischer geworden. Dies liegt vor allem daran, dass bei den ursprünglichen Schätzungen viele Kosten nicht berücksichtigt wurden – ein Trend, der nicht nur in den Niederlanden, sondern weltweit zu beobachten ist. Auch Unsicherheiten hinsichtlich der Energiekosten für die Herstellung des Wasserstoffs spielen ebenfalls eine Rolle. Ohne substanzielle Subventionen oder signifikante Kundenprämien bleibt die Stahlproduktion mit grünem Wasserstoff finanziell nicht tragbar. Das hat zur Folge, dass viele unserer europäischen Wettbewerber gerade dabei sind, ihre Pläne zu überdenken und viele Projekte bereits gestoppt wurden. Unserer Ansicht nach muss sich die europäische Politik auf die Wiederbelebung dieser Projekte konzentrieren, indem sie nicht nur Wasserstoff priorisiert, sondern auch alternative Technologien für eine emissionsfreie Stahlproduktion erforscht.

marketSTEEL: Apropos Potenzial: Ihr Standort in IJmuiden profitiert von der Nähe zur Nordsee und zu Offshore-Windparks. Wie unterstützt das Ihre Pläne?

Unsere geografische Lage ist in der Tat ein großer Vorteil. Der direkte Zugang zu erneuerbarer Offshore-Windenergie und diversifizierten globalen Rohstoffquellen stärkt unsere Position als Vorreiter bei grünem Stahl. Darüber hinaus ermöglicht die hervorragende logistische Infrastruktur unseres Tiefseehafens eine flexible und effiziente Beschaffung von Rohstoffen und Energie. Das macht uns zu einem äußerst widerstandsfähigen Unternehmen, das in der Lage ist, Störungen im globalen Versand standzuhalten, indem es den Schwerpunkt in unserer Lieferkette verlagert.

Diese Resilienz kommt unseren Kunden direkt zugute. Nicht nur, weil die Produktion von Tata Steel Nederland weniger wahrscheinlich durch Energie- oder Ressourcenknappheit unterbrochen wird, sondern auch, weil wir zahlreiche Transportmöglichkeiten für unsere Produkte haben – über das Meer, den Fluss, die Schiene und die Straße.

marketSTEEL: Wie wichtig ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Niederlanden und Deutschland?

Industrielle Wertschöpfungsketten machen nicht an Grenzen halt – dies gilt insbesondere für das niederländisch-deutsche industrielle Ökosystem. Diese enge Zusammenarbeit bildet das Fundament für einige der erfolgreichsten und innovativsten Industrieunternehmen der Region. Für viele Unternehmer gibt es die Grenze nicht: Sie konzentrieren sich darauf, einen Partner mit der benötigten Expertise zu finden.

Bei Tata Steel erleben wir dies täglich. Unsere langjährigen Beziehungen zu unseren Kunden gehen über die reine Lieferung von Stahl hinaus. Wir streben danach, ein Innovationspartner zu sein, der eng zusammenarbeitet, um Lösungen zu entwickeln, die Fortschritt und Erfolg vorantreiben.

marketSTEEL: Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen und Anforderungen, denen die europäische Industrie gegenübersteht – wie der Dekarbonisierung, der Sicherung der globalen Wettbewerbsfähigkeit und der Förderung internationaler Zusammenarbeit –, welche zentrale Botschaft möchten Sie den europäischen Entscheidungsträgern mit auf den Weg geben?

Die Zukunft der europäischen Industrie und Produktion ist sauber und nachhaltig. Der erfolgreiche Übergang hin zu einer klimaneutralen und ressourcenschonenden Wirtschaft ist von zentraler Bedeutung, um Europas Position als Rückgrat des Wohlstands, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Stabilität zu festigen. Gleichzeitig bietet diese Transformation die Möglichkeit, Lösungen für die drängenden gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen zu finden. Wenn dies der "Nordstern" ist, auf den wir hinarbeiten, dann muss unsere Industrie- und Handelspolitik vollständig aufeinander abgestimmt sein, um diese Ziele zu unterstützen.

Eine der wichtigsten Prioritäten besteht darin, sicherzustellen, dass Unternehmen aus Drittstaaten beim Zugang zum Binnenmarkt die gleichen Standards einhalten wie europäische Unternehmen. Ein ordnungsgemäß funktionierender Mechanismus zur Anpassung der Kohlendioxidemissionen (Carbon Border Adjustment Mechanism - CBAM) ist für die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs unerlässlich. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen der schrittweisen Reduktion kostenloser CO₂-Zertifikate für energieintensive Industrien und der Einführung des CBAM sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf das Timing sensibel. Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie auch auf globaler Ebene zu erhalten, ist es zudem essenziell, einen Exportmechanismus für Länder außerhalb der EU einzuführen, in denen keine CO₂-Bepreisung existiert. Darüber hinaus müssen Maßnahmen verschärft werden, um zu verhindern, dass Unternehmen, die illegale staatliche Subventionen erhalten, den europäischen Markt durch unlautere Preisbildungspraktiken destabilisieren.

Durch die Schaffung eines politischen Rahmens der ein Gleichgewicht zwischen Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit herstellt, wird Europa eine Vorreiterrolle beim Aufbau einer nachhaltigen industriellen Zukunft einnehmen und gleichzeitig auf einem globalen Markt widerstandsfähig bleiben.

marketSTEEL: Was ist Ihre langfristige Vision für Tata Steel Nederland?

Wie ich bereits sagte, spielt die europäische Industrie eine entscheidende Rolle bei der Sicherung unseres Wohlstands, unserer wirtschaftlichen Stabilität und unserer allgemeinen Sicherheit. Um dies zu gewährleisten, braucht Europa die Fähigkeit, eine unabhängige und souveräne Position auf der globalen Bühne einzunehmen – gestützt von Industrieunternehmen, die den Herausforderungen von heute und morgen gewachsen sind.

Innerhalb des industriellen Ökosystems Europas ist die Stahlindustrie ein zentraler Bestandteil der Wertschöpfungskette. Stahl ist ein unverzichtbarer Werkstoff, der technologie- und produktübergreifend eingesetzt wird. Tata Steel Nederland ist sich seiner strategischen Bedeutung bewusst: Die Ursprünge unseres Unternehmens gehen bis in den Ersten Weltkrieg zurück – eine Zeit in der die unabhängige Niederlande keinen Stahl mehr importieren konnte und ihre Wirtschaft praktisch zum Stillstand kam. Aus diesem Grund sehen wir uns auch heute als ein wesentliches Rückgrat der strategischen Autonomie Europas.

Die Zukunft des europäischen Fertigungssektors ist sauber und nachhaltig, so wie die Zukunft von Tata Steel. Auch in dieser sauberen Zukunft werden wir ein verlässlicher Innovationspartner für unsere Kunden, ein stabiler Arbeitgeber für unsere Mitarbeiter und ein wichtiger Akteur im regionalen Energieökosystem sein. Darüber hinaus werden wir ein Eckpfeiler der niederländisch-deutschen industriellen Wertschöpfungskette bleiben.

 

Fotos: TATA Steel

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