Neuer Preis-Schock und ungewisse Aussichten
von Andreas Schneider
Der russische Angriff auf die Ukraine und die im Gegenzug verhängten westlichen Sanktionen haben am europäischen Stahlmarkt einen neuen Preis-Schock ausgelöst. Quer durch die Erzeugnisse sind die Spotmarktpreise dramatisch gestiegen und haben die im Vorjahr erreichten Rekordstände deutlich überschritten. Anders als im Vorjahr ist der Preisschub bei den meisten Erzeugnissen aber bisher nicht Ausdruck einer Versorgungskrise. Eher handelt es sich im Risikozuschläge angesichts zahlreicher Unsicherheiten. Denn die Auswirkungen zeigen sich auf verschiedenen Ebenen: ausfallende Stahlimporte, Risiken für die Stahlerzeugung der EU, Rohstoff- und Energiekosten, Nachfrageeffekte. Die an vielen Stellen gleichzeitig aufgeworfenen Fragen können derzeit nur ansatzweise beantwortet werden. Somit lässt sich die mögliche weitere Entwicklung nur vage einschätzen. Eine erste Analyse.
Versorgungsrisiken durch wegfallende Stahlimporte
Die EU hat im März Importverbote für Stahlerzeugnisse aus Belarus und Russland ausgesprochen. Die ukrainische Stahlerzeugung ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Damit werden Stahlimporte aus den drei Ländern, die zusammen ca. 24% der EU-Importe ausmachen, weitgehend ausfallen. Die daraus resultierenden Risiken für die Versorgung sind bei den einzelnen Erzeugnissen unterschiedlich groß. Während bei Quartoblechen fast 60% der EU-Importe und ca. 10% des EU-Verbrauchs betroffen sind, sind es bei feuerverzinkten Blechen ca. 11% der Importe und knapp 3% des Verbrauchs.
Wie schnell die entstandenen Lücken geschlossen werden können, bleibt auch vor dem Hintergrund der Störungen bei der globalen und lokalen Logistik abzuwarten. Grundsätzlich könnten erhebliche Zusatz-Mengen aus Asien und auch aus der Türkei nach Europa fließen. Bei den EU-Schutzmaßnahmen werden die bisherigen zollfreien Kontingente für Russland und Belarus proportional zu den Liefermengen des Jahres 2021 auf andere Länder verteilt. Dadurch werden für EU-Verbraucher die Möglichkeiten für zollfreie Importalternativen erweitert. Allerdings wurden die Schutzmaßnahmen für die Mengen aus der Ukraine noch nicht angepasst. Dies erschwert vor allem bei Grobblechen die Ersatzbeschaffung erheblich.
Risiken für EU-Stahlerzeugung
Insbesondere Russland ist ein wichtiger Energie- und Rohstofflieferant für Deutschland und für die EU. Größtes Risiko für die Stahlerzeugung ist die Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland, die für die gesamte Industrie schwerwiegende Folgen hätte.
EU-Rohstoff-Importe aus Russland unterliegen keinen direkten Sanktionen, solange Eigentümer nicht-sanktioniert sind. Aufgrund der westlichen Sanktionen und dem Bestreben vieler Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen zu kappen, werden diese Lieferungen weitgehend auslaufen. Der Rohstoff-Export der Ukraine findet offenbar teilweise noch per Bahn statt.
Die Risiken der einzelnen EU-Werke sind stark von Standort, Lieferantenstruktur und Beständen abhängig. Standorte in Mittel-Osteuropa dürften eine überproportionale Abhängigkeit aufweisen.
Bei Kokskohle und Feinerzen ist das Weltmarktangebot wohl ausreichend, um wegfallende Importe auszugleichen. Wie schnell dies geht, ist aber unklar. Eine Umstellung ist bei hochwertigen Eisenerz-Pellets schwieriger, weil hier auch die Ukraine hohe Weltmarktanteile hält und die Alternativen begrenzt sind. Dies gilt auch für Roheisen, wo eine zu erwartende Verknappung indirekt auch den Schrottmarkt trifft. Schließlich sind Versorgungsprobleme bei zahlreichen (Legierungs-)metallen möglich, von denen Nickel das prominenteste ist.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus wegbrechenden Halbzeugimporten. Hier stellen Russland und die Ukraine fast 90% der EU-Importe, bei denen es sich ganz überwiegend um Brammen handelt. Da diese Halbzeuge sowohl an in der EU ansässige Tochterunternehmen russischer und ukrainischer Stahlhersteller, an unabhängige Re-Roller und an integrierte Werke der EU gehen, sind die Folgen besonders schwer einzuschätzen.
Rohstoff- und Energiepreise
Der Kriegsausbruch hat zunächst zu einem starken Anstieg der schon zuvor rekordhohen Rohstoffpreise geführt. Die Energiepreise bewegen sich unter nie gesehenen Schwankungen auf sehr hohem Niveau. Die Anfang März erreichten Strompreise haben zum Teil zu direkten Produktionsanpassungen vor allem bei Elektrostahlwerken in Südeuropa geführt. Dies hat bei vor allem bei baunahen Langerzeugnissen zu Panikkäufen geführt. Welche Mengen bisher tatsächlich ausgefallen sind, ist derzeit aber nicht klar.
Die Preise für viele Legierungsmetalle sind im März stark gestiegen. Sowohl bei einzelnen Rohstoff- als auch bei Energiepreisen waren aber in der zweiten Märzhälfte in gewissem Umfang Korrekturen zu beobachten.
Der steile Anstieg der Stahlpreise im März geht jedenfalls nicht alleine auf gestiegene Herstellkosten zurück, sondern die Spotmarktpreise sind sehr viel stärker gestiegen. Dabei muss aber beachtet werden, dass gerade bei Flachstahl die am Spotmarkt umgesetzten Mengen gering waren. Viele Werke waren dort nur sehr kurzzeitig und mit begrenztem Volumen vertreten. Es halten sich zudem viele Abnehmer zurück, die ihre eigenen Bedarfe nur schwer einschätzen können und aufgrund ausreichender Bestände zunächst die weitere Entwicklung abwarten.
Stahlnachfrage
Auf Kundenseite findet die Abwägung von Versorgungsrisiken mit den Prognosen für die eigenen Bedarfe unter vergleichbarer Unsicherheit statt. Im automobilnahen Bereich sind die Produktionsprobleme der deutschen Automobilindustrie zu spüren. Aktuell werden zahlreiche Konjunkturprognosen nach unten korrigiert, Frühindikatoren stürzen ab. Der Stahlbedarf wird in diesem Jahr wahrscheinlich deutlich geringer ausfallen als ursprünglich erwartet.
Zusammen mit den extrem hohen Preisen und wachsenden Finanzierungsproblemen dürfte dies am Gesamtmarkt einem starken Lageraufbau im Wege stehen, der in früheren Jahren regelmäßig für länger dauernde Preisblasen verantwortlich war.
Ausblick
Neben dem weiteren Fortgang der Krise ist die große Frage, wie schnell Lieferströme neu organisiert werden können. Vom Tempo und Umfang der Anpassungsreaktionen bei Walzstahl, Halbzeugen und Rohstoffen hängt es ab, inwieweit aus potenziellen Risiken tatsächliche Störungen werden. Solange Unsicherheiten bezüglich der weiteren Angebotsentwicklung (EU-Produktion & Importe) bestehen, bleiben die Risikozuschläge erhalten. Aber die Unsicherheiten auf der Nachfrageseite und die zuletzt teilweise wieder niedrigere Rohstoffkosten könnten das Potenzial für einen weiteren Anstieg begrenzen.
Die genannten Faktoren werden sich weiter mit hoher Dynamik ändern. Stahleinkäufer müssen daher mit verschiedenen Szenarien planen. Die individuellen Risiken sind je nach bezogenen Erzeugnissen, Lieferantenstruktur und Vertragsgestaltung unterschiedlich groß.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.
Foto: StahlmarktConsult und Fotolia
Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.