KI ist keine Magie, sondern eine statistische Disziplin, die dafür sorgt, dass die Stahlproduktion klimafreundlicher wird.
von Dagmar Dieterle
Tim Eschert von Fero Labs spricht über die aktuelle Diskussion zu „grünem Stahl“, Herausforderungen im Stahlrecycling und dem Einsatz von Machine Learning im Produktionsprozess.
marketSTEEL: Welche Rolle spielt das Thema „Grüner Stahl“ für die Industrie und wo liegen die Herausforderungen?
Ganz offen gesagt: zu „grünem Stahl“ gibt es kaum eine Alternative – vor allem, wenn man es mit der Dekarbonisierung der Industrie ernst meint. Stahl, der nicht der Regulatorik hinsichtlich CO²-Emissionen entspricht, wird früher oder später keinen Markt mehr haben. Umsätze sind dann nicht woanders und können eventuell vom Wettbewerb zurückgeholt werden, sondern brechen schlicht und ergreifend komplett weg. Dadurch stehen ganze Geschäftsmodelle auf dem Spiel. Die Stahlindustrie steht jetzt vor der Herausforderung, einen äußerst energieintensiven Produktionsprozess so auszugestalten, dass er der Gesellschaft und ihren Ansprüchen an Nachhaltigkeit entspricht. Das gilt im Übrigen ganz analog auch für alle anderen energieintensiven Industrien, wie z.B. die Zementindustrie. Der nötige Umbau braucht Zeit und geht nicht von heute auf morgen. Steigende Energiepreise und die Diskussion um einen möglichen Ausstieg aus Gas und Kohle aus Russland haben die Situation speziell in Deutschland nochmals verschärft. Hinzu kommen der Fachkräftemangel sowie ein hoher Innovations- bzw. Investitionsstau in der Branche.
marketSTEEL: Wie trägt KI dazu bei, Stahl klimafreundlicher zu machen?
Der Weg hin zu echtem „grünem Stahl“ ist noch lang und von hoher Komplexität geprägt. Ein Stahlwerk ist eben keine kleine Fertigungsanlage. Künstliche Intelligenz kann dazu beitragen, Komplexität zu reduzieren, indem die Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung in der Produktion voll ausgenutzt werden. Hier liegt aktuell noch sehr viel Potenzial brach. Eines ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: KI ist keine Magie, sondern ist eine Disziplin der Statistik, die sehr planbar dafür sorgt, Emissionen zu senken und Kosten bei gleichbleibender Qualität zu reduzieren. Es ist ganz unromantisch: Die KI-Software rechnet, damit veränderte Parameter im Produktionsprozess den Stahl innerhalb der Spezifikationen halten – und sie rechnet eben sehr schnell…
marketSTEEL: Warum ist das Thema „Grüner Stahl“ für Fero Labs interessant?
Wir lieben Stahl. Stahl ist ein absolutes Hightech-Produkt mit einer Vielzahl von hochkomplexen Parametern. Gerade im Bereich Recyclingstahl steigt die Varianz durch den Einsatz von unterschiedlichen Legierungsmaterialien erheblich an. Das gilt in besonderem Maße, wenn vor dem Hintergrund einer enorm gestiegenen Nachfrage beim Recycling von Stahl ganz unterschiedliche Materialqualitäten bis hin zu uraltem Schrott eingesetzt werden. Hier setzen wir an. KI von Fero Labs ermöglicht es, in Echtzeit in der Rohmaterialienzusammensetzung zu pendeln und damit die Wahrscheinlichkeit von Ausschuss im Produktionsprozess signifikant zu reduzieren. Das spart sowohl Rohmaterialien als auch Energie. Wir können nachweislich einen Beitrag liefern, damit Stahl klimafreundlicher wird. Das motiviert uns ungemein.
marketSTEEL: An welchen konkreten Projekten arbeiten sie?
Gemeinsam mit unserem Partner Gerdau arbeiten wir daran, nahezu in Echtzeit auf die Varianz im Produktionsprozess Einfluss zu nehmen, indem beispielsweise der Einsatz von Rohmaterialien optimiert wird. Das Projekt beweist: Wer seine Prozessparameter im Griff hat, reduziert den Ausschuss erheblich und hat einen klaren Wettbewerbsvorteil. Im Fall von Gerdau kommen wir bei einem mittleren Produktionsvolumen auf rund 9 Prozent Einsparungen im Jahr.
marketSTEEL: Wo sehen sie die Trends bei „grünem Stahl“ in den nächsten Jahren?
Es wird viel genauer differenziert werden, wenn von „grünem Stahl“ oder „Stahlrecycling“ die Rede ist. Neben der technischen Umrüstung auf möglichst effiziente Produktionsanlagen muss die Stahlindustrie zudem weiter daran arbeiten, die brachliegenden Potenziale in der Prozessdatenverarbeitung voll auszunutzen, um den CO²-Fußabdruck zu reduzieren und den Anforderungen der Regulatorik zu entsprechen. KI kann und wird hier ein wesentlicher Erfolgsfaktor sein.
Herr Eschert, herzlichen Dank für das Gespräch.
Foto: Fero Labs GmbH, fotolia und marketSTEEL