EU-Schutzmaßnahmen: Abschottung oder nötiger Schutz?

Die Ende März eingeleitete Schutzmaßnahmen-Untersuchung der EU stößt bei vielen Stahlverarbeitern und Stahlhändlern auf Kritik. Befürchtet werden eine Marktabschottung und eine spürbare Einschränkung des Importwettbewerbs, die gerade in Zeiten einer fortschreitenden Konzentration am Stahlmarkt der EU das Tor für noch höhere Stahlpreise öffnen könnten. Vertreter der Stahlindustrie zeigen sich als lautstarke Unterstützer der EU-Untersuchung und fordern die baldige Einführung von Importkontingenten. Wer hat Recht? Und welche Marktwirkungen lassen sich jetzt schon beobachten?

Von der EU-Untersuchung sind praktisch alle Walzstahlerzeugnisse betroffen. Sowohl allgemeine als auch länderspezifische Quoten und/oder Zöllen sind möglich. Es wird gemutmaßt, dass über mögliche vorläufige Maßnahmen schon in den kommenden Wochen entschieden werden könnte. Eine endgültige Entscheidung soll innerhalb von neun Monaten fallen.

Nach Aussage der Wirtschaftsvereinigung Stahl ist es alleiniges Ziel von Schutzmaßnahmen (Safeguards), Verwerfungen aus den US-Maßnahmen und Umlenkungen in den europäischen Markt einzugrenzen, nicht aber den Markt abzuschotten. Daher sollten Kontingente eingeführt werden, die „die traditionellen Stahl-Lieferströme in die EU“ unangetastet lassen. Zölle würden somit nur dann greifen, wenn diese Importmengen überschritten werden. Die WTO stelle hierfür das Instrument der Schutzklauseln zur Verfügung.

Dies klingt erst einmal nachvollziehbar. Woher kommt also die Aufregung? Schließlich herrscht auch bei vielen Handelspartnern der EU Skepsis. So wurde die Einleitung der EU-Untersuchung auf einem WTO-Treffen am 23. April von Korea, der Türkei, Argentinien, China, Ägypten, Vietnam, Chile und Indien kritisiert. Die nach WTO-Recht erforderlichen Voraussetzungen für die Einleitung der Untersuchung seien nicht erfüllt und die EU trage damit zum weltweit wachsenden Protektionismus bei.

 

Importkontingente: Auf die Höhe kommt es an!

Der gesunde Menschenverstand würde erwarten, dass mögliche Importkontingente mindestens das EU-Einfuhrvolumen des Jahres 2017 unangetastet lassen. Schließlich soll das Ziel ja ein Schutz vor Umlenkungen infolge der US-Zölle sein. Diese sind aber erst im März 2018 (teilweise) in Kraft getreten.

Tatsächlich kann die EU-Kommission nach WTO-Recht die Höhe von möglichen Quoten gestalten, solange sie nicht niedriger als der durchschnittliche Wert der drei letzten repräsentativen Jahre sind. Und hier wird es spannend: Werden als die drei letzten repräsentativen Jahre die Jahre von 2015 bis 2017 festgelegt, würden die zollfreien Einfuhrmengen bei Flachstahl um ca. 3% und bei Langprodukten um gut 2% unter den Lieferungen des Jahres 2017 liegen. Bei einzelnen Erzeugnissen wäre der Rückgang noch weitaus stärker. So lägen die zollfreien Mengen bei metallisch überzogenen Blechen bei fast 25% und bei Walzdraht um mehr als 7% unter denen des Jahres 2017. Würde man, wie von Vertretern der Stahlindustrie vorgeschlagen, einen Zeitraum von 2013 bis 2017 als „repräsentativ“ festlegen, lägen die zollfrei möglichen Einfuhrmengen um satte ca. 15% niedriger als 2017. Auch hier wären einzelne Erzeugnisse noch deutlich stärker betroffen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit würde ein solcher Einschnitt zu höheren Stahlpreisen führen.

Noch vielfach stärker wäre die Wirkung, wenn eine Festlegung von Kontingenten nicht für Gesamtmengen, sondern für Lieferungen jedes einzelnen Herkunftslandes erfolgen würde. Denn viele der traditionellen Lieferanten der EU sind praktisch ausgefallen. Dies gilt vor allem für das am Weltmarkt meistgehandelte Erzeugnis Warmbreitband. Die Lieferländer China, Russland, Ukraine, Brasilien und Iran, auf die zuvor fast 80% der EU-Drittlandimporte entfielen, sind aufgrund der hohen Anti-Dumping-Zölle der EU praktisch nicht mehr präsent. Länder wie die Türkei und Indien haben begonnen, die hinterlassene Lücke zu füllen und den vorhandenen Importbedarf der EU-Stahlverarbeiter zu decken. Wenn dies durch Kontingente auf Basis von Einfuhrmengen der Vorjahre verhindert wird, gerät die Versorgung in der EU in große Gefahr.

Die Festlegung von Quoten auf Basis „traditioneller“ Liefermengen würde zwar Marktanteile und Gewinne der europäischen Stahlindustrie sichern, aber jede Importdynamik im Keim ersticken und den Wettbewerb empfindlich schwächen. Der Marktzugang für relativ neue Lieferländer wie zum Beispiel Vietnam wäre verschlossen. Zu einem lebendigen und freien Wettbewerb gehört unverzichtbar die Möglichkeit eines Markteintritts durch neue Anbieter.

Dem EU-Markt droht zwar keine vollständige Marktabschottung. Die Sorge vor einer preissteigernden Verknappung infolge künstlich reduzierter Importe ist aber berechtigt. Denn es geht nicht wirklich nur um den Schutz vor Zusatzmengen infolge der US-Zölle, sondern es besteht die reale Gefahr von EU-Importkontingenten deutlich unterhalb des Niveaus vor Inkrafttreten der US-Zölle. Betroffen davon wären wohlgemerkt nicht etwa nur gedumpte oder unfair gehandelte Einfuhren, für die ja das Instrument der Anti-Dumping-Maßnahmen zur Verfügung steht, sondern alle Einfuhren.  

 

Spekulation statt Fakten

Nicht nur das mögliche Ergebnis der EU-Untersuchung, sondern auch die voreilige Einleitung sorgen für Unbehagen. Zentrale Kriterien der WTO, vor allem ein signifikanter Importanstieg als Folge unvorhergesehener Maßnahmen und eine Schädigung der EU-Stahlindustrie, sind nicht erfüllt. Nicht Fakten zu den Auswirkungen der US-Zölle, sondern Spekulationen und Annahmen bilden die Basis des Verfahrens. Ob es möglicherweise zu einer Handelsumlenkung von „Millionen Tonnen“ in den EU-Markt kommen wird, ist absolut nicht vorherzusagen. Die Warnungen vor einer „Stahlschwemme“ und einem drohenden schweren Schaden für die Stahlindustrie der EU sind zum jetzigen Zeitpunkt maßlos übertrieben. Bei einer nüchternen Abschätzung könnten die EU-Importe an Walzstahl infolge der US-Zölle um maximal 3 bis 4% gegenüber 2017 steigen. Es passt ins Bild, dass schon ein punktueller EU-Importanstieg zu Beginn des Jahres als Konsequenz der US-Zölle bezeichnet wird, obwohl diese zu dem Zeitpunkt noch gar nicht in Kraft waren und obwohl die US-Importe in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 gerade einmal um 240.000 Tonnen niedriger als im Vorjahr lagen.

 

Untersuchung wirkt preisstützend

Schon alleine die Einleitung der Untersuchung wirkt am Markt preisstützend. Denn es ist große Unsicherheit in der für die Stahlmarktentwicklung äußerst relevante Frage der künftigen Importmöglichkeiten entstanden. Kein Marktteilnehmer weiß, zu welchen Konditionen ein Drittlandimport in einem, drei oder sechs Monaten möglich ist. Solange das Ergebnis der EU-Untersuchung nicht klar ist, bleiben Importe aus Drittländern mit einem hohen Risiko behaftet und werden daher kaum getätigt. Der von Importen ausgehende Wettbewerb hat merklich nachgelassen. Dies ist in der jetzigen Phase einer fortschreitenden Konzentration unter den EU-Herstellern und ohnehin schon langen Lieferzeiten besonders bedeutsam.  Einzelne Anbieter nutzen unverhohlen erwartete Schutzmaßnahmen und die dem Käufer dann fehlenden Importalternativen als Rechtfertigung für weitere Preiserhöhungen.

Entsprechend kann der Ausgang der Schutzmaßnahmen-Untersuchung den Markt in beide Richtungen beeinflussen. Eine künstliche Beschränkung der Einfuhren unterhalb des zuletzt erreichten Niveaus und erst recht länderspezifische Quoten würden Versorgung und Wettbewerb in der EU empfindlich schwächen. Ein Verzicht auf Quoten oder eine Festlegung deutlich oberhalb der aktuellen Mengen hätte umgekehrte Wirkungen und dürfte die Aussichten für sinkende Preise befördern. Die Entscheidung der EU-Kommission darf mit Spannung erwartet werden.

 

 

 

Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult. Foto: StahlmarktConsult

Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.

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