Die Politik verschärft die Stahl-Versorgungskrise

von Andreas Schneider

 

 

Die Versorgungskrise am EU-Stahlmarkt nimmt beängstigende Züge an. Stahl wird in vielen Fällen nicht mehr verkauft, sondern zugeteilt. Bei Neuanfragen werden schon jetzt Lieferzeiten im 4. Quartal genannt, verbindliche Liefertermine sind Mangelware. Auch neun Monate nach Beginn des Nachfrageaufschwungs schaffen es EU-Hersteller nicht, die Nachfrage ihrer Kunden zu bedienen. Immer neue Stolpersteine scheinen einer angemessenen Erhöhung der Liefermengen im Weg zu stehen. Importe könnten für die dringend nötige Entlastung sorgen. Leider setzt die Politik in Brüssel und Berlin mit importbeschränkenden Maßnahmen falsche Prioritäten.

Stahlverarbeiter aller Branchen brauchen in diesen Zeiten wahrhaft starke Nerven. Bei der Stahlbeschaffung über Rahmenverträge kommt es immer wieder zu Mindermengen und/oder Verzögerungen. Die dann fälligen Deckungskäufe am leergefegten Spotmarkt sind in der Regel nur nach Anfrage bei zahlreichen Lieferanten und zu exorbitant hohen Preisen möglich. Da die Bestände der oft zwischengeschalteten Service-Center ebenfalls auf niedrigstem Niveau liegen, müssen in manchen Fällen gar Kunden oder Wettbewerber aushelfen. Höhere Bedarfe der eigenen Kunden oder Anfragen zu Neuprojekten müssen mangels Material abgelehnt werden. Lieferzeiten der Anbieter, sofern sie überhaupt einen Auftrag entgegennehmen, liegen am Ende des 3. Quartals oder noch später. Durch fehlenden Stahl verursachte Bandstillstände werden zu einer immer realeren Gefahr. Unterdessen springen die Spotmarktpreise in großen Schritten Richtung Allzeithoch. So ist die Lage am Flachstahlmarkt, und in anderen Segmenten des Stahlmarktes ist es ähnlich.

EU-Erzeuger: Produktionserhöhung zu spät und zu langsam
Die offensichtliche Mangelwirtschaft in einem Markt, der doch eigentlich von Überkapazitäten geprägt ist, wirft Fragen auf. Es liegt klar auf der Hand, dass zahlreiche Stahlhersteller in der EU viel zu spät und viel zu langsam auf die Nachfrageerholung reagiert haben. Diese begann bereits nach der Sommerpause 2020 und hat im 4. Quartal stark an Fahrt aufgenommen. In den vergangenen Wochen vorgelegte Geschäftszahlen zeigen für das Schlussquartal bei vielen Herstellern eine große Lücke zwischen stark steigenden Auftragseingängen auf der einen und nur leicht bis moderat steigenden Auslieferungen bzw. Produktionsmengen auf der anderen Seite. Darin liegt der Ursprung des heutigen Mangels.

Es ist nachvollziehbar, dass Hochöfen und Walzwerke nicht von heute auf morgen wieder auf Vollauslastung gebracht werden (können). Allerdings sollte man annehmen, dass stark steigende Auftragseingänge im Verbund mit ebenso stark steigenden Verkaufspreisen genug Anreiz dafür bieten, die Produktion innerhalb von drei bis vier Monaten der Nachfrage anzupassen. Dass dies möglich ist, zeigt eine StahlmarktConsult-Analyse der Quartalszahlen von sieben EU-Flachstahlherstellern. Im 4. Quartal haben es immerhin drei Hersteller geschafft, ihre Auslieferungen wieder nahe oder sogar über die Mengen des 1. Quartals zu bringen. Andere, überwiegend große, Anbieter lagen aber noch um 10% oder mehr unter diesem Niveau.

EU-Stahlkapazitäten sind nur zu 71% ausgelastet
Für eine Einordnung der aktuellen Produktionsmengen sei angenommen, dass die EU-Stahlnachfrage in diesem Jahr ungefähr das Niveau des Jahres 2019 erreichen wird und in den ersten Monaten des Jahres aufgrund von Nachholeffekten besonders stark ausfällt. Auf dieser Basis fällt die Bilanz am Jahresanfang 2021 ernüchternd aus. Die Rohstahlerzeugung in der EU27 lag im Januar 2021 noch um fast 9% unter dem Niveau vom Januar 2019. Auf Basis der aktuellen Angaben der OECD zu den in der EU verfügbaren Erzeugungskapazitäten sind diese derzeit nur zu ca. 71% ausgelastet. Für Deutschland sehen die Zahlen etwas besser aus: Die Lücke zu Januar 2019 beträgt nur 4,3% und die Kapazitätsauslastung ca. 76%. Diese Zahlen müssen den Unternehmen, die händeringend nach Stahl suchen, wie blanker Hohn vorkommen.

Und es scheint so, als sei eine schnelle Steigerung der EU-Produktion nicht in Sicht. In Deutschland kämpft Stahlhersteller A immer noch mit den Folgen eines einwöchigen Wintereinbruchs im Februar. Stahlhersteller B hat angekündigt, im Sommer einen großen Hochofen für Wartungszwecke außer Betrieb zu nehmen. In Italien wurde die gerade eingeleitete Produktionsausweitung bei dem großen Hersteller C von einer vorläufigen richterlichen Schließungsverfügung gestoppt, noch mindestens bis Mai droht eine juristische Hängepartie. Und wie war das noch mit den Gerüchten um mögliche Finanzierungsschwierigkeiten bei Hersteller D als Folge der Insolvenz der Greensill-Bank? Aus welchen Gründen auch immer und unabhängig davon, ob gewollt oder ungewollt: es sieht so aus, als ob die Stahlerzeugung in der EU insgesamt auch in den kommenden Monaten nur gemächlich zulegen wird.

Rettungsanker Importe? Die Politik hat was dagegen
Nun steht es jedem Unternehmen frei, so viel oder wenig zu produzieren, wie es das für richtig hält. Wenn die Produktion hinter der Nachfrage zurückbleibt, droht allerdings der Verlust von Marktanteilen. In einem offenen Markt könnten Wettbewerber aus dem Ausland in Form von Importen die entstandene Angebotslücke füllen.

Importmengen hängen im Wesentlichen von drei Faktoren ab: der Nachfrage im Empfängerland, den Preisrelationen zwischen Liefer- und Empfängerland und der Offenheit des Marktes. Während im Jahr 2020 der zwischenzeitliche Nachfrageeinbruch in der EU und die lange ungünstigen Preisrelationen die Hauptursache für sinkende Importe waren, wird in diesem Jahr die Offenheit der Märkte entscheidend sein. Denn die Nachfrage ist groß und die Preise in der EU liegen mittlerweile höher als in anderen Regionen.

Die Flachstahleinfuhren der EU lagen 2020 um 2,3 Mio. Tonnen niedriger als 2019 und sogar um 3,8 Mio. Tonnen oder 25% niedriger als 2018. Bei Walzdraht liegt der Rückgang gegenüber 2018 bei ca. 30%. Im Jahr 2021 wäre ein Anstieg mindestens in diesen Größenordnungen nötig, um die Versorgungslage in der EU zu entspannen. Ob dies gelingen wird, ist aber fraglich.

Denn der Stahlmarkt der EU ist nicht offen. Seit 2018 gelten „Schutzmaßnahmen“ gegen Stahleinfuhren, die aus einer Kombination von Kontingenten und Zöllen bestehen. Die Maßnahmen wurden ursprünglich als Reaktion auf die US-Importzölle im Jahre 2018 und zur Abwehr von umgelenkten Handelsmengen (die niemals im damals behaupteten Umfang zu sichten waren) gedacht. Seitdem wurde daraus immer mehr ein Instrument zur detaillierten Steuerung von Importströmen. Dies war zuletzt 2020 zu sehen, als mit gezielten Änderungen die Einfuhren aus der Türkei zurückgedrängt wurden. Die Schutzmaßnahmen sind ein bürokratisches Monstrum. Die quartalsweise, länderspezifische Vergabe der Kontingente und die Ungewissheit darüber, ob bei Ankunft des Materials ein Zoll von 25% droht, führen zu einer stark beschränkten Flexibilität und zu unkalkulierbaren Risiken für Importeure.

Das System konnte im vergangenen Jahr nur relativ geringen Schaden anrichten, da die zollfreie Importkontingente aufgrund der geringen Nachfrage vielfach ungenutzt blieben. Seit dem vierten Quartal 2020 zeichnet sich aber ab, dass die Kontingente in vielen Fällen zu knapp bemessen sind, um die Nachfrage in der EU zu bedienen. Eigentlich waren die Maßnahmen auf den 30.06.2021 befristetet. Das Auslaufen der Maßnahmen wäre zwar keine Garantie, aber doch eine gute Perspektive für eine ausreichende Stahlversorgung der EU wenigstens ab der Jahresmitte gewesen.

„Demand for steel still hasn´t recovered” – so sehen Wirtschaftsminister den Stahlmarkt
Allerdings hat die EU nun im Februar ein Verfahren eingeleitet, in dem die mögliche Verlängerung der Maßnahmen untersucht wird. Den Antrag dafür hat der europäische Verband der Stahlhersteller, Eurofer, gestellt. Unterstützt haben ihn die Wirtschaftsminister aus zwölf Mitgliedstaaten der EU, darunter auch Deutschland. Wer die umfangreichen Antragsunterlagen studiert, bekommt den Eindruck, dass hier von einer Scheinwelt berichtet wird. Es wird von einer Importkrise gesprochen, während es in Wahrheit eine Versorgungskrise gibt. Es werden zunehmende Verwerfungen am Weltmarkt als neue Bedrohung ausgemacht, während die global gehandelten Mengen in den vergangenen Jahren stetig und deutlich gefallen sind. Importbeschränkungen werden als geeignetes Mittel zur Lösung aller möglichen Herausforderungen der EU-Stahlindustrie gepriesen, während die WTO sie nur als Ausnahmeinstrument für Sondersituationen vorsieht. Kurzum: Das Verfahren ist in höchstem Maße politisiert und die Fakten scheinen dabei keine große Rolle zu spielen. Hervorstechendes Beispiel dafür ist der im Januar 2021 geschriebene Satz der zwölf Wirtschaftsminister: „Demand for steel still hasn´t recovered“.  

Das Ergebnis des Verfahrens wird voraussichtlich erst zur Jahresmitte feststehen. Und solange es läuft, schafft es Unsicherheit. Kein Importeur weiß, ob es ab Juli noch Importkontingente gibt, wie sie organisiert werden und ob möglicherweise beim Grenzübergang ein Zoll droht. Eine flexible Reaktion auf kurzfristige Verfügbarkeiten ist kaum möglich. Bei Liefer- und Frachtzeiten von oft mehreren Monaten werden Importe bis weit ins zweite Halbjahr mit einem Handicap versehen. Zudem hat die EU parallel bei Warmbreitband und im Rostfrei-Bereich neue Antidumping-Verfahren eingeleitet, durch die die Importmöglichkeiten zusätzlich beschränkt werden.

Als Ergebnis dieser Maßnahmen werden Importe nur bedingt zu einer Entspannung beitragen können. Aufgrund der Versorgungskrise am EU-Stahlmarkt und der Not vieler Stahlverarbeiter wäre es jetzt dringend erforderlich, einen möglichst freien und flexiblen Zugang zu Importen zu ermöglichen. Die faire Abwägung der Interessen von Herstellern und Verbrauchern ist in Berlin und Brüssel gründlich misslungen.

 

Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.

Foto: StahlmarktConsult und Fotolia

Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.

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