Die Nachfragesituation am Stahlmarkt muss jetzt neu bewertet werden
von Andreas Schneider
Schon seit mehreren Wochen deuten einige Faktoren, die die Stahlreise bis zur Jahresmitte auf ein un-denkbar hohes Niveau getrieben hatten, auf eine Abschwächung hin. Bisher haben die deutschen Stahlpreise dem Abwärtsdruck noch recht gut widerstanden. Angesichts der im Sommer erreichten Preisstände und des immer noch rekordhohen Abstands der Stahlpreise zu den Rohstoffkosten sind die bisherigen Rückgänge am Spotmarkt für Lang- und Flachprodukte als äußerst moderat anzusehen. Grund dafür waren immer noch hohen Auftragsbestände vieler Werke. Aufgrund der guten Auslastung war es kaum erforderlich, größere Preiszugeständnisse zu machen. Es ist wahrscheinlich, dass sich dies nun ändert. Denn die Nachfragesituation muss neu bewertet werden.
Die bei verschiedenen Stahlerzeugnissen immer noch unüblich langen Lieferzeiten gehen im Schwerpunkt auf hohe Auftragsüberhänge aus dem 4. Quartal 2020 und den ersten Monaten des Jahres 2021 zurück. Dieser Überhang wurde bis zum Sommer nur sehr langsam abgebaut. Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass die Reichweite der Auftragsbestände in der Stahlindustrie zwischen Mai und Juli nur um 0,3 Monate gefallen ist. Mit 4,1 Monaten wurde im Juli die Auftragsreichweite normaler Zeiten noch um mehr als einen Monat übertroffen. Während im bisher wahrscheinlichsten Szenario mit einer weiter nur zögerlichen Normalisierung zu rechnen war, hat sich die Lage jetzt geändert.
Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes lag in der Stahlindustrie über einen ungewöhnlich langen Zeitraum von zehn Monaten der Index der Auftragseingangs über dem Index der Produktion. Dies bildete den am Markt bestehenden Nachfrageüberhang auch statistisch ab. Bereits zwischen Mai und Juli 2021 hat sich die Situation umgekehrt: die Erzeugung lag über den Bestellungen, wenn auch nur in geringem Maße. Grund dafür ist nicht eine höhere Erzeugung, sondern eine schwächere Nachfrage. Die Auftragseingänge der deutschen Stahlindustrie haben nach einem starken Jahresauftakt in markanter Weise nachgelassen. Bereits im Zeitraum Mai bis Juli war ein Minus von ca. 18% gegenüber dem vorigen Dreimonatszeitraum zu verzeichnen. Der nun für August veröffentlichte Wert markiert einen weiteren Absturz. Die Bestellungen fielen auf den niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt der Corona-Krise im Mai 2020. Das Bestellniveau von August 2020 wurde um 20% unterschritten.
Grund für diese Entwicklung ist vor allem die schwache Automobilkonjunktur. Es zeigt sich dort immer klarer, dass das zweite Halbjahr erwartete Produktionsniveau nicht realisiert werden kann. Wichtigste Ursache dafür ist der andauernde Mangel an Halbleitern, der bei PKW- und Nutzfahrzeugherstellern zu starken Einschränkungen in der Produktion führt. Viele Zulieferer berichten von einem schwachen Septembergeschäft, das von kurzfristig verschobenen Mengenabrufen ihrer Kunden geprägt sei. Entsprechend sind sowohl in der Industrie als auch bei vielen Stahl-Service-Centern die Stahlbestände in den vergangenen Wochen spürbar gestiegen.
Zuletzt haben verschiedene Automobilhersteller berichtet, wie hart ihre Produktion von den fehlenden Chips getroffen wird. Nun hat der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) seine Prognose für das Jahr 2021 nochmals deutlich gesenkt. Es werden nur noch 2,9 Millionen Fahrzeuge erwartet, wie unter anderem die FAZ berichtet. Dies ist gegenüber dem Jahr 2020, in dem die Produktion bereits um 25% geschrumpft war, ein Rückgang um weitere 3%. Am Jahresanfang hatte der Verband noch eine Inlands-PKW-Produktion von 4,2. Mio. Stück erwartet.
Nicht nur der Mangel an Halbleitern dämpft die Produktion. Auch die für die deutschen Hersteller wichtigen Auslandsmärkte scheinen zu schwächeln. So lag laut VDA der Auftragseingang aus dem Ausland in den vergangenen drei Monaten deutlich im Minus, das am Jahresanfang noch stattliche Auftragspolster ist im Jahresverlauf geschrumpft.
Dieser Einbruch wird an allen mit der Automobilindustrie verknüpften Stahlerzeugnissen nicht spurlos vorüber gehen. Der Auftragsbestand der deutschen Stahlhersteller, von denen viele stark auf die Automobilindustrie ausgerichtet sind, wird schneller schmelzen als in den vergangenen Monaten und als es noch vor wenigen Wochen anzunehmen war. Dazu kommt ein stark gewachsener Importwettbewerb in der EU. Insbesondere bei Flachstahl scheint ein deutlicher Rückgang der Spotmarktpreise noch in diesem Jahr unausweichlich.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.
Foto: StahlmarktConsult und Fotolia
Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.