Die EU-Schutzmaßnahmen sind da - und jetzt?
von Florian Dieterle
Seit dem 19. Juli sind die sogenannten Schutzmaßnahmen der EU gegen Stahleinfuhren aus Drittländern in Kraft. Eine erste Bewertung zeigt, dass die EU-Kommission die von der WTO vorgegebenen Kriterien bis zum Äußersten gedehnt hat, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Damit hat sich die Stahlindustrie im Grundsatz durchgesetzt. Der Widerstand vieler Stahlverbraucher blieb aber nicht ohne Erfolg. Denn die Ausgestaltung der Maßnahmen hätte für sie schlimmer kommen können. Dennoch werden die zollfreien EU-Einfuhren bei einigen Erzeugnissen deutlich gegenüber dem Status vor Inkrafttreten der US-Zölle beschränkt. Die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Stahlpreise in der EU sind schwer abzuschätzen. Zu amerikanischen Verhältnissen wird es aber wohl nicht kommen.
Begründung der Maßnahmen: Mehr Historie als Aktualität
Die vorläufige Entscheidung bestätigt, was schon der Text zur Verfahrenseinleitung ahnen ließ: Trotz gegenteiliger Behauptungen in der Öffentlichkeit basieren die EU-Schutzmaßnahmen weniger auf aktuellen Einfuhrtrends infolge der im März 2018 verhängten US-Zölle als auf Marktentwicklungen in den Jahren 2013 bis 2016. Zum Nachweis steigender Einfuhren und einer angeblich prekären Lage der europäischen Stahlindustrie führt die Kommission vor allem Indikatoren aus diesem Zeitraum ins Feld. Die dargestellten aktuelleren Einfuhrzahlen ergeben dagegen ein durchaus differenziertes Bild. Insgesamt wurden 23 Warenkategorien untersucht, davon fallen elf in den Bereich Walzstahl (ohne Rostfrei). Immerhin bei fünf Walzstahl-Erzeugnissen waren die EU-Importe im Jahr 2017 rückläufig. In vier Fällen sind die EU-Importe im 1. Quartal 2018 gegenüber dem Vorjahr gesunken. Bei nur drei Walzstahl-Kategorien sind die EU-Einfuhren sowohl 2017 als auch 2018 gestiegen. Dies sind Elektrobleche (außer GOES), Walzdraht und Profile, auf die zusammen lediglich 9% der gesamten untersuchten EU-Einfuhren entfallen. Erst gar nicht beleuchtet hat die Kommission die Frage, ob ein aktueller Importanstieg der EU mit entsprechend sinkenden US-Importen korrespondiert und somit eine Handelsumlenkung angenommen werden kann. Somit werden Handelsumlenkungen mehr behauptet als belegt.
Auch mit der Frage, ob die EU-Stahlindustrie aufgrund einer bestehenden oder zu erwartenden Schädigung überhaupt Schutz benötigt, geht die Kommission überaus großzügig um. Die in manchen Warenkategorien aus dem Markt bekannte, hervorragende aktuelle Situation der EU-Hersteller wird unter Verweis auf frühere und angeblich drohende, künftige Schwierigkeiten geflissentlich ignoriert. Die vorläufige Entscheidung beinhaltet eine Fülle von Indikatoren zur Situation in den einzelnen Warenkategorien, so dass sich jeder Leser ein eigenes Bild machen kann. Zwar wird klar, dass die Situation in einzelnen Segmenten tatsächlich immer noch schwierig ist. In anderen aber eben nicht. Interessanterweise ist das Bild für die auf der Importseite mengenmäßig bedeutsamsten Erzeugnisse am positivsten. Für warm- und kaltgewalzte Bleche sowie Bleche mit metallischem Überzug, auf die zusammen fast die Hälfte aller EU-Einfuhren entfallen, werden eine gute Auslastung und weit überdurchschnittliche Gewinne der EU-Hersteller ausgewiesen. Warum trotzdem auch für diese Erzeugnisse Schutzmaßnahmen verhängt wurden, bleibt unklar. Ob diese Vorgehensweise bei möglicherweise von betroffenen Handelspartnern angestrengten WTO-Verfahren Bestand haben würde, ist zumindest fraglich. Jedenfalls dürfte die Diskussion über die Berechtigung der Safeguards bis zur endgültigen Entscheidung am Jahresende anhalten. Die jetzigen Maßnahmen sind nur vorläufig und für längstens 200 Tage gültig.
Teilerfolge für Verarbeiter, trotzdem teilweise starke Importbeschränkungen
Auch wenn sich die Stahlindustrie im Grundsatz mit dem Verlangen nach Schutzmaßnahmen durchgesetzt hat, sind bei weitem nicht alle ihre Forderungen erfüllt worden. Dies gilt vor allem für die Zuteilung von länderspezifischen Quoten auf Basis von historischen Liefermengen, die für Verarbeiter vor allem bei Flachstahl verheerend gewesen wäre. Stattdessen gibt es nun globale Kontingente, die nach dem Windhund-Prinzip verteilt werden. Damit können durch Anti-Dumping-Zölle vom EU-Markt verdrängte Länder weiterhin durch neue Herkunftsländer ersetzt werden. Ebenso nicht umgesetzt wurde eine quartalsweise Berechnung von Quoten. Schließlich wurden die zollfreien Importkontingente auf Basis der in den Jahren 2015 bis 2017 importierten Mengen berechnet und nicht auf Basis eines noch länger zurückliegenden Zeitraums.
Trotzdem müssen Stahlverbraucher dicke Brocken schlucken. Der oberhalb der Kontingente zu entrichtende Einfuhrzoll von 25% resultiert nach Meinung der Kommission zwar aus einer ausgewogenen und „großzügigen“ Berechnung, dürfte aber dennoch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit dieser Importe weitgehend zunichtemachen und wie eine Kappungsgrenze wirken. Zudem bedeutet die von der EU-Kommission zugunsten der Verarbeiter angeführte „Sicherstellung historischer Liefermengen“ nichts anderes, als dass die zollfreien EU-Einfuhren bei einigen Erzeugnissen deutlich gegenüber dem Status vor Inkrafttreten der US-Zölle beschränkt werden. Das liegt daran, dass die EU-Importe im Mittel der Jahre 2015 bis 2017 in den meisten Fällen unter dem Niveau des Jahres 2017 und am Jahresbeginn 2018 liegen. Mit den Kontingenten werden also nicht nur umgeleitete Zusatzmengen abgewehrt, sondern die schon vor Verkündung der US-Zölle etablierten Importmengen der EU beschränkt. Dies zeigt deutlich die tageweise Umrechnung der Kontingente für die entsprechenden Vergleichszeiträume. Gegenüber den Importmengen des Jahres 2017 ergeben sich deutliche Einschnitte von mehr als 10% aber „nur“ bei Elektroblechen, überzogenen Blechen und rostfreien Blechen und Bändern. Dagegen liegen die Kontingente bei warmgewalzten Blechen und Profilen um mehr als 10% oberhalb der 2017er Mengen. Im Vergleich zu den Importmengen im 1. Quartal 2018 führen die Kontingente bei fast allen Erzeugnissen zu sehr starken Beschränkungen von oft weit mehr als 20%. Besonders heftig betroffen sind alle Langprodukte und alle Rostfrei-Produkte. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass das erste Quartal eines Jahres traditionell besonders hohe Einfuhrmengen verzeichnet. Das einzige Erzeugnis, bei dem das Kontingent oberhalb des Importniveaus im 1. Quartal 2018 liegt, ist Grobblech.
Wirkung am Markt: drohen US-Verhältnisse?
Am US-Markt sind infolge der dortigen Einfuhrzölle die Spotmarktpreise für das Referenzprodukt Warmbreitband seit dem Jahresanfang um ca. 250,- $/t gestiegen und haben das höchste Niveau seit 2008 erreicht. Dies führt zu der – je nach Marktseite bangen oder hoffnungsfrohen – Frage, ob ähnliche Entwicklungen auch in der EU zu erwarten sind.
Aus heutiger Sicht ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich am EU-Markt die US-Entwicklung wiederholen wird. Die EU-Maßnahmen fallen deutlich weicher aus, da beträchtliche Importmengen zollfrei bleiben. Zudem ist das Geschehen am EU-Markt wesentlich stärker an den Weltmarkt gekoppelt als in den USA, wo die Preise schon seit längerem ein gewisses Eigenleben führen. Sinkende Weltmarkt- und Rohstoffpreise könnten daher in der EU dämpfend wirken.
Allerdings ist seit kurzem auch am EU-Spotmarkt bei vielen Erzeugnissen eine Tendenz zu moderaten Preiserhöhungen zu beobachten, die häufig in einen Kontext mit den Schutzmaßnahmen gestellt werden. Es scheint möglich, dass es unüblicherweise über den Sommer zu höheren Spotmarktpreisen kommt. Wie lange diese Phase andauert und wie stark der Anstieg ausfallen wird, ist schwer zu sagen. Mit den vorläufigen Maßnahmen dürfte sich die Unsicherheit vieler Akteure am Importmarkt zunächst einmal ein Stück weit lösen. Für einige Monate besteht die Möglichkeit, ohne Risiko eines Zolls in die EU zu liefern. Möglicherweise führt das in Verbindung mit dem „Wer zuerst kommt…-Prinzip“ zu einem schnell einsetzenden Run auf die zollfreien Kontingente und die Importverfügbarkeit bessert sich. Dies würde höheren Preisen entgegenstehen, hängt aber auch von den Preisrelationen am Weltmarkt ab. Auch weitere Faktoren, wie eine mögliche Nachfrageabschwächung im zweiten Halbjahr, spielen für die Preisentwicklung eine Rolle. Gegen Ende des Jahres werden dann wieder die Spekulationen über den endgültigen Ausgang der Schutzmaßnahmenuntersuchung an Gewicht gewinnen.
Nicht nur die harten Fakten, sondern auch die Erwartungen und Stimmungen des Marktes werden das Bild prägen. Der Stahlmarkt ist anfällig für zyklische Übertreibungen in beide Richtungen. Daher ist es spannend, wie die Marktteilnehmer auf die vorläufigen Maßnahmen reagieren werden. Die importbeschränkende Wirkung fällt bei den einzelnen Erzeugnissen unterschiedlich aus und daher dürften die Maßnahmen in ebenso unterschiedlichem Maße die Erwartungen erfüllen oder enttäuschen.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult. Foto: StahlmarktConsult
Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.