Das Tschernobyl-Projekt

Ein neuer Schutzmantel soll das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl für die nächsten 100 Jahre vor dem möglichen Austritt radioaktiver Strahlung schützen. Das Tata Steel-Unternehmen Kalzip aus Koblenz hat eigens hierfür die aus Edelstahl bestehende Innen- und Außenverkleidung der neuen Schutzhülle entwickelt. Im Interview mit marketSTEEL verrät Geschäftsführer Dr. Jörg Schwall, was es für einen Gebäudehüllenspezialisten bedeutet, an der Entstehung des größten beweglichen Bauwerks der Welt beteiligt zu sein.

 

marketSTEEL: Herr Dr. Schwall, was war die größte Herausforderung bei ihrem Tschernobyl-Projekt?

Eine besondere Herausforderung für die Ingenieure waren die hohen Maßstäbe an die Standsicherheit gegen Windsogkräfte der Tornadoklasse 3 und Erdbebenstärke 7. Das bedeutet konkret, dass die Schutzhülle Rotationsgeschwindigkeiten von bis zu 340 Stundenkilometern und der Erdbebenklasse 6 standhalten musste. Und das bei den außerordentlichen Dimensionen der Hülle: Die an einen Flugzeughangar erinnernde Gewölbekonstruktion ist 257 Meter breit, 150 Meter lang und 105 Meter hoch.

marketSTEEL: Kalzip ist eigentlich Spezialist für Gebäudehüllen aus Aluminium. Warum sind sie in Tschernobyl auf Edelstahl umgeschwenkt?

Im Kern des Reaktors kann sich nach wie vor große Hitze entwickeln. Eine Hülle aus Aluminium könnte solchen Temperaturen womöglich nicht standhalten. Daher sind wir auf Edelstahl ausgewichen. Sonst fertigen wir nur Hüllen aus Aluminium, daher waren das Know-How und der kundenspezifische Ansatz unseres Mutterkonzerns Tata Steel Europe hier unglaublich hilfreich.

marketSTEEL: Verhindert die Edelstahlhülle selbst, dass radioaktive Strahlung austritt?

Nein, das geschieht durch eine Spezialmembran aus Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk – kurz EPDM –, die den Mantel umschließt. Aber unsere Edelstahlhülle schützt genau diese Membran zuverlässig vor Witterungseinflüssen und Beschädigungen. Und sie sorgt gleichzeitig dafür, dass der Schutzmantel trotz seiner enormen Größe bei möglichen Erdbeben der Stärke 6 und tornadoartigen Windgeschwindigkeiten stabil bleibt. Hierzu haben wir die gesamte Geometrie der Profil- und Systemhalter neu ausgerichtet und die Fläche der Systemhalter vergrößert.

marketSTEEL: Wie groß ist die Last, die die Hülle dadurch aushalten kann?

Die neuen Profiltafeln halten statt einer Kraft von 12,6 ganzen 24 Kilonewton pro Quadratmeter stand. Um das mal in Bildern auszudrücken: Auch wenn sie mehr als einen vollgetankten SUV an jeden Quadratmeter des Daches hängen, bleibt es fest in seiner Verankerung.

marketSTEEL: War das Tschernobyl-Projekt ihr bisher größter Auftrag? Der neue Schutzmantel gilt immerhin als größtes bewegliches Bauwerk der Welt.

Von der Fläche her war das neue Terminal des King Abdulaziz International Airport in Jeddah, Saudi-Arabien, in den Jahren 2013 bis 2015 unser größter Auftrag. Hier haben wir 344.000 Quadratmeter Kalzip-Profiltafeln verlegt. Gemessen an der Umsatzgröße war der Schutzmantel für den havarierten Reaktor in Tschernobyl auf dem gleichem Niveau.

Quelle: Kalzip,

Foto Dr. Schwall: Thomas Frey

Foto des Bauwerkes: Francis Vigouroux

 

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