Ausblick auf das Stahljahr 2020
von Dagmar Dieterle
Im zu Ende gehenden Jahr 2019 hat der überraschend heftige Nachfrageeinbruch das Geschehen am deutschen Stahlmarkt geprägt. Entsprechend sind am Spotmarkt die Preise quer durch die Erzeugnisse deutlich gefallen. Der Ausblick auf das kommende Jahr zeigt, dass auf der Nachfrageseite nicht unbedingt eine schnelle Wende zu erwarten ist. Dennoch dürfte der Markt zu einem ausgewogeneren Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage finden. Sowohl die Rohstoffkosten als auch die Stahlpreise werden voraussichtlich im Jahresmittel niedriger als 2019 liegen. Statt einem klaren Preistrend sind eher unterjährige Zyklen von kurzer Dauer zu erwarten. Abseits der reinen Marktentwicklung sind alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette Stahl gut beraten, sich rechtzeitig mit den unternehmerischen und politischen Konsequenzen der extrem ehrgeizigen De-Carbonisierungsziele der EU zu beschäftigen.
Wenn der Stahlmarkt der vergangenen Jahre eines gezeigt hat, dann ist es, dass Unerwartetes jederzeit geschehen kann. Mit dieser ausdrücklichen Vorbemerkung werden dies aus meiner Sicht die TOP-Trends des Stahljahres 2020 sein:
- Ausgewogenere Angebots-Nachfrage-Balance
Nach dem scharfen Einbruch in diesem Jahr wird der tatsächliche Stahlbedarf im kommenden Jahr nicht weiter fallen, aber auch kaum zulegen. Wahrscheinlich ist eine Stabilisierung auf erniedrigtem Niveau. Allerdings wird der zusätzlich stark bremsende Effekt des Lagerabbaus an Gewicht verlieren, der nun zu einem großen Teil vollzogen sein dürfte. Mittlerweile ist das Angebot besser an die gesunkene Nachfrage angepasst worden, so dass eine ausgewogenere Balance zwischen den beiden Marktseiten zu erwarten ist. Dennoch wird der Wettbewerb um die verfügbaren Mengen intensiv bleiben. Die Zukunft des früheren Ilva-Werkes in Italien, die weitere Entwicklung der weltweiten Handelskonflikte und der Ausgang der Brexit-Verhandlungen sind Faktoren, die die Stahlnachfrage in beide Richtungen beeinflussen können.
- Weltmarkt-Wettbewerb bleibt intensiv
Am Weltmarkt wird unverändert ein Überangebot bestehen, das zu einem intensiven Wettbewerb führen wird. Dieser wird nicht mehr nur maßgeblich von China, sondern von einer Vielzahl von Ländern geprägt werden. Der in den vergangenen beiden Jahren starke Preisdruck von Lieferungen aus der Türkei wird nachlassen. Zum einen, weil sich der dortige Stahlmarkt graduell zu erholen scheint. Zum anderen, weil die angepassten „Schutzmaßnahmen“ der EU vor allem türkische Hersteller treffen. Insgesamt halten die EU-Maßnahmen die Weltmarkteinflüsse nicht fern, sorgen aber auf der individuellen Ebene in vielen Fällen für ein hohes Zoll-Risiko. Drittlandimporte bleiben mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden.
- Rohstoffkosten im Jahresmittel niedriger
Sofern extreme Wetterphänomene ausbleiben, werden die Rohstoffkosten nicht mehr das Niveau des ersten Halbjahres 2019 erreichen. Nach der scharfen Korrektur der letzten Monate ist das weitere Abwärtspotenzial bei Eisenerz und Kokskohle begrenzt. Im Jahresmittel 2020 könnten die Rohstoffkosten der Hochofenroute um ca. 30,- €/t unter dem Niveau des Jahres 2019 liegen. Lagerzyklische und saisonale Einflüsse sowie die tagesaktuelle Nachrichtenlage werden immer wieder für Schwankungen sorgen. Dies ist aktuell am Schrottmarkt zu beobachten, der voraussichtlich weiterhin von hoher Volatilität geprägt sein wird.
- Stahlpreise mit kurzen Zyklen statt klarem Trend
Aus heutiger Sicht ist nicht zu erwarten, dass sich ein klarer, den gesamten Jahresverlauf beherrschender Preistrend einstellen wird. Eher sind von der Rohstoffseite und von Bestandseffekten getriebene kürzere Preiszyklen zu erwarten. Dabei werden die Stahlpreise wahrscheinlich im ersten Halbjahr höher als im zweiten Halbjahr liegen. Nach den Rückgängen der vergangenen Monate dürfte es im ersten Quartal 2020 zu einer begrenzten Gegenbewegung kommen. Im Jahresmittel werden die Spotmarktpreise niedriger als 2019 sein. Aufgrund der besseren Nachfragesituation dürften sich die Preise baunaher Langprodukte relativ stärker entwickeln als die für Flachprodukte und Spezial-Langprodukte. Am Rostfrei-Markt wetteifern voraussichtlich steigende Nickelkurse und anhaltender Importdruck um die Oberhand.
- Klimaschutz wird in der Supply-Chain Stahl zum Mega-Thema
Nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch bezogen auf die Stahlerzeugung hat das Thema Klimaschutz enorm an Fahrt aufgenommen. Als CO2-intensive Industrie ist die Stahlindustrie von den politisch vorgegebenen De-Karbonisierungszielen stark betroffen. Insbesondere die bei Flachstahl vorherrschende Erzeugung über die Hochofenroute ist einem großen Veränderungsdruck ausgesetzt. Gleichzeitig steigt entlang der Supply Chain vor dem Hintergrund unternehmenseigener Klimaziele der Bedarf nach Informationen zum CO2-Fußabdruck. Die technologischen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Wertschöpfungskette Stahl werden daher in nicht allzu ferner Zukunft große Umwälzungen erfahren. Die Frage ist, mit welchen Technologien, zu welchen Kosten und mit welchen Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsposition künftig in Europa noch Stahl produziert wird. Stahlverarbeiter sind gut beraten, sich rechtzeitig mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult.
Foto: StahlmarktConsult, Fotolia
Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.