Angebot und Nachfrage am deutschen Markt – ist Stahl knapp?

von Dagmar Dieterle

Die Flachstahlpreise sind seit dem 4. Quartal 2016 sowohl im Spot- als auch im Kontraktgeschäft  stärker gestiegen als die Rohstoffkosten. Spürbar niedrigere Kokskohlepreise schlagen sich bisher nicht in sinkenden Stahlpreisen nieder. Erklärt wird dies häufig mit einer engen Angebots-Nachfrage-Relation. Aber ist Stahl am deutschen Markt wirklich knapp? Neue Markdaten liefern dazu aufschlussreiche Informationen.

Nach den vor kurzen veröffentlichten Daten der Wirtschaftsvereinigung Stahl lag der Walzstahl-Auftragseingang der deutschen Werke im 4. Quartal 2016 um 5% höher als im Vorjahr. Zur besseren Einordnung dieses Zuwachses sei vermerkt, dass das 4. Quartal 2015 beim Auftragseingang das schwächste Schlussquartal seit dem Krisenjahr 2009 war. Im mehrjährigen Vergleich fielen die Bestellungen somit eher unterdurchschnittlich aus. Der Nachfragezuwachs kam mit +12% fast ausschließlich aus dem Ausland, während die Bestellungen aus dem Inland das Vorjahresvolumen lediglich um 0,9% übertrafen.

Insgesamt sind die Auftragseingänge der deutschen Werke im Jahr 2016 um 5,7% gestiegen. Dabei wiederholte sich auf leicht erhöhtem Niveau das Muster der Vorjahre, nach dem im ersten Halbjahr deutlich mehr Stahl als im zweiten Halbjahr bestellt wird. Dasselbe Bild zeigt sich auf EU-Ebene. Zum Jahresende scheinen Lagereffekte im Zuge von verbreitet steigenden Preisen die Stahlnachfrage zwar etwas unterstützt zu haben. Sie blieben aber insgesamt moderat. Sowohl am deutschen als auch am europäischen Markt war die Nachfrage in den vergangenen Monaten alles andere als überschießend.

Die in den vergangenen Monaten immer wieder kolportierten langen Lieferzeiten bei Flachstahlerzeugnissen sind nicht mit einer starken Nachfrage zu erklären. Sie müssen angebotsseitige Gründe haben. Und diese sind im früheren Verlauf des Jahres 2016 zu finden. Vergleicht man Auftragseingänge, Lieferungen und Erzeugnisse am deutschen Markt, zeigt sich, dass die Erzeugung im ersten Halbjahr nicht mit der Nachfrage mitgehalten hat (siehe Grafik unten). Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie dürften vor allem bei geplanten und ungeplanten Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen in einigen Werken liegen. Im zweiten Halbjahr stellte sich die Situation bereits deutlich ausgewogener dar. Im Schlussquartal wurde in Deutschland besonders viel Stahl erzeugt: die Flachstahlerzeugung lag um fast 12% über dem Vorjahr. Damit durften die aufgelaufenen Rückstände bei der Bedienung der Aufträge weitgehend abgearbeitet sein. Folgerichtig lag der Auftragsbestand der deutschen Werke im Dezember 2016 fast 500.000 Tonnen niedriger als noch im Juni.

Die bisweilen anzutreffende Einschätzung, am Stahlmarkt wiederhole sich das Jahr 2008, in dem die Stahlhersteller die Preise fast nach Belieben diktieren konnten, ist nicht durch die Realität gedeckt. Am Jahresanfang 2008 lag der Auftragsbestand der deutschen Werke um fast 1,6 Mio. Tonnen oder 15% höher als im Januar 2017. Entsprechend zeugen auch die jüngst veröffentlichten Quartalsberichte führender europäischer Stahlhersteller nicht von einer überschäumend optimistischen Markteinschätzung.

Auf EU-Ebene tragen mittlerweile Importe aus Drittländern in größerem Maßstab zur Marktversorgung bei. Eine Einschränkung dieses Angebotes ist aus den vorliegenden Zahlen (noch) nicht zu erkennen. Trotz der Antidumpingmaßnahmen der EU erreichten die Flachstahleinfuhren im 4. Quartal mit knapp 5,4 Mio. Tonnen den höchsten Quartalswert des Jahres 2016. Gegenüber dem Vorjahr ergibt sich ein Anstieg um mehr als 10%. Selbst die mit Zöllen von bis zu 22% belegten Einfuhren von kaltgewalzten Blechen aus China, die über weite Strecken des Jahres fast versiegt waren, legten am Jahresende wieder zu und erreichten im Dezember 2016 mit 55.000 Tonnen den höchsten Stand seit November 2015. Zudem haben neue Lieferländer vielfach die durch Strafzölle ausgesperrten Lieferungen ersetzt.  Dies belegt eindrucksvoll, dass sich Importströme, auch wenn sie mit Zöllen belegt sind, dynamisch ändern können. Möglicherweise wird sich die grassierende Furcht vor versiegenden Importen zwar nicht als unbegründet, aber als etwas übertrieben erweisen.

Insgesamt lässt sich aus den zuletzt vorgelegten Daten schließen, dass sich die Angebots-Nachfrage-Relation am Flachstahlmarkt in den vergangenen Monaten eher entspannt als zugespitzt hat. Wie zu hören ist, hat sich bei warmgewalzten und kaltgewalzten Blechen die Liefersituation bereits wieder etwas gebessert. Bei feuerverzinkten Blechen ist der Markt weiter eng und die Unsicherheit über die Folgen der im Dezember eröffneten Antidumping-Untersuchung besonders groß.

Die fundamentalen Daten zu Angebot und Nachfrage sprechen dafür, dass der aktuell große Abstand der Stahlpreise zu den Rohstoffkosten auf Dauer nicht gehalten werden kann. Allerdings beziehen sich auch die aktuellsten Daten auf die (nahe) Vergangenheit und können nicht den Blick in die Zukunft ersetzen. Größere Nachfragesprünge sind zwar weiterhin nicht zu erwarten. Die Angebotsseite des EU-Stahlmarktes, also Erzeugung der EU-Hersteller und Importe aus Drittländern, ist mit Blick auf 2017 mit einigen Unsicherheiten behaftet. Zudem zeigt die Erfahrung, dass sich die Stahlpreise für eine gewisse Zeit von den Fundamentaldaten entkoppeln können. Dennoch gibt es aus Stahleinkäufersicht keinen Grund dafür, die Hoffnung auf wieder niedrigere Stahlpreise aufzugeben.

 

Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult. Foto: StahlmarktConsult

Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.

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