Kollaborationsplattformen stärken automobile Wertschöpfungsketten
von Hubert Hunscheidt
Die „Chip-Krise“ hat die Wertschöpfungsketten der Autoindustrie in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Sie hat eine breite Debatte darüber ausgelöst, wie künftig die Folgen solcher disruptiven Ereignisse minimiert und die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen verbessert werden kann. Das BMBF-Projekt HyValue setzt sich bereits seit mehreren Jahren intensiv mit diesen Fragen auseinander. Über drei Jahre wurde in einem soziotechnischen Forschungsansatz gemeinsam mit Vertretern von OEM und Zuliefereren ein Prototyp für eine digitale Kollaborationsplattform in der Autoindustrie entwickelt. Die zentralen Projektergebnisse werden heute in einem Forschungsreport veröffentlicht.
Fahrzeuge gehören zu den komplexesten Industriegütern unserer Zeit. An ihrer Entwicklung und Produktion sind vom Schraubenhersteller bis zum Entwickler von Fahrerassistenzsystemen eine Vielzahl von Unternehmen beteiligt, deren Erzeugnisse ineinandergreifen müssen. Die Chip-Krise hat einmal mehr vor Augen geführt, wie fragil dieser Prozess ist und dass dringend neue Ansätze gefunden werden müssen, um die Zusammenarbeit in den Wertschöpfungsketten zu verbessern.
Informationsasymmetrien als Störfaktoren in der Wertschöpfungskette
„Noch immer prägen Hierarchien und Informationsasymmetrien die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen in der Automobilindustrie“, beschreibt Dr. Eckhard Heidling, Vorstandsmitglied des ISF München, die gegenwärtige Konstellation. Gerade in Fahrzeugentwicklungsprojekten besteht häufig keine Transparenz aller beteiligten Akteure auf die jeweils relevanten Informations- und Statusflüsse im Wertschöpfungsnetzwerk. Diese Ausgangssituation stört die Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive aller beteiligten Akteure auf die Zusammenarbeit in den Projekten schon im Ansatz und erschwert es, mit den immer wieder erforderlichen Änderungen im Projektverlauf umzugehen.
„Trichtereffekt“ trifft KMU
Insbesondere für die Unternehmen auf den unteren Ebenen der Wertschöpfungskette – häufig KMUs – führt die Intransparenz zu einer Art Trichter-Effekt: Je länger es dauert, Änderungen im Projekt zu kommunizieren, desto weniger Zeit bleibt ihnen, diese noch umzusetzen, da sie auch wieder vor den übergeordneten Akteuren mit ihren Erzeugnissen fertig sein müssen. „Unsere Forschung zeigt, dass dies nicht nur die Qualität der Projektarbeit stark beeinträchtigt und die Flexibilitätsspielräume in der Fahrzeugentwicklung einschränkt, sondern langfristig auch den Aufbau resilienter Wertschöpfungsbeziehungen stört“, so Heidling, der den Projektverbund geleitet hat.
Von der Pyramide zum Ecosystem
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungs- und Entwicklungsprojekt „HyValue – Hybridisierung in der Value Chain“ hat seit 2019 neue Wege ergründet, um die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen in Entwicklungsprojekten der Automobilindustrie zu verbessern. Ziel war es, beispielhaft zu zeigen, wie die hierarchische Wertschöpfungspyramide in Richtung eines stärker kollaborativ ausgerichteten Wertschöpfungssystems transformiert werden kann. Im Projektverbund wurde dafür auf Grundlage eines soziotechnischen Forschungs- und Gestaltungsansatzes ein Softwareprototyp einer digitalen Kollaborationsplattform für Fahrzeugentwicklungsprojekte erarbeitet sowie komplementär ein Konzept für kollaborative Dienstleistungsarbeit erstellt.
Der Prototyp der HyValue-Kollaborationsplattform
Der Prototyp der HyValue-Kollaborationsplattform ermöglicht es, Daten in Echtzeit auszutauschen und Termine unternehmensübergreifend zu verknüpfen, ohne dabei die Eigenständigkeit der beteiligten Unternehmen aufzuweichen. Kommt es bei einem Zulieferer zu Verzögerungen, kann dieser die Änderung im Zeitplan sofort allen Beteiligten mitteilen. So werden schnellere Kommunikation und ein effizienterer Austausch von Arbeitsergebnissen möglich und den gefürchteten Aufschaukelungseffekten in der Lieferkette kann vorgebaut werden.
Vertrauen aufbauen: Das Konzept kollaborativer Dienstleistungsarbeit
Die Einführung einer Kollaborationsplattform allein erzeugt allerdings noch keine Verbesserung der Zusammenarbeit. In Interviews mit Führungskräften und Beschäftigten hat sich gezeigt, dass die neue Informationstransparenz auch als Bedrohung erlebt werden kann. Entscheidend ist es daher, die Einführung der Plattform mit arbeitsorganisatorischen Maßnahmen zu flankieren und die kollaborativen Kompetenzen der Führungskräfte und Beschäftigten zu fördern. Im Projekt wurde dafür ein Konzept für kollaborative Dienstleistungsarbeit erarbeitet, dessen Maßnahmen dabei helfen, Vertrauen als Modus der Zusammenarbeit im unternehmensübergreifenden Handlungs- und Arbeitsraum aufzubauen und gute Projektarbeit zu stärken.
Kollaboration als Mittel gegen die Chip-Krise
Auch im Umgang mit der Chip-Krise erscheinen in der Wertschöpfungskette auf den ersten Blick hierarchische Maßnahmen und Strafzahlungen als Mittel der Wahl. Doch die HyValue-Untersuchungen deuten darauf hin, dass gerade diejenigen Unternehmen die Chip-Krise bisher besser bewältigen, die im Krisenmodus nicht anderen die Schuld in die Schuhe schieben, sondern stattdessen kollaborativ agieren und gemeinsam Lösungen erarbeiten. Das HyValue-Projekt zeigt, wie eine geeignete IT-Lösung für einen kollaborativen Modus der Zusammenarbeit im Wertschöpfungssystem Automotive aussehen und in der Unternehmenspraxis implementiert werden kann.
Forschungsreport veröffentlicht
Die zentralen Ergebnisse des Projekts wurden heute im Forschungsreport „Von der Pyramide zum Ecosystem. Mit soziotechnischen Innovationen die Zusammenarbeit in der Automobilindustrie stärken“ veröffentlicht. Neben einer ausführlichen Darstellung des Prototyps der Kollaborationplattform, des Konzepts kollaborativer Dienstleistungsarbeit sowie weiterer Forschungsergebnisse durch die Projektpartner kommen in der Publikation zugleich hochkarätige Experten zu Wort. In Interviews schildern sie aus ihrer Perspektive zentrale Herausforderungen und Lösungsansätze für die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in der Automobilindustrie.
Der Report kann als Open Access-Publikation steht hier zum Download zur Verfügung.
Quelle: ISF München / Foto: Fotolia