Entdeckung neuer Werkstoffe mit Hilfe von maschinellem Lernen
von Hubert Hunscheidt
Internationales Forschungsteam veröffentlicht universelles Framework in der Fachzeitschrift Nature.
Neue Werkstoffe ebnen den Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Die Suche nach und das Design neuer Werkstoffe, die die Anforderungen von High-Tech Anwendungen erfüllen, ist allerdings zeit- und kostenintensiv. Um die benötigten Materialeigenschaften zu erzielen, wenden Wissenschaftler*innen oft ein relativ neues Legierungsdesign ein bei dem sie unterschiedliche Elemente in fast gleichen Mengenanteilen vermischen. Die daraus entstehenden, sogenannten Hochentropie-Legierungen, vereinen oft sehr gegensätzliche Eigenschaften, wie zum Beispiel eine hohe Festigkeit bei gleichzeitig hoher Duktilität. Im Vergleich dazu bestehen herkömmliche Legierungen, seit Jahrtausenden praktiziert, aus einem oder zwei Grundelementen mit geringen Anteilen anderer Elemente. Dies jedoch schöpft das volle Potential der einzelnen Elemente und deren synergetische Effekte lange nicht aus.
Dr. Ziyuan Rao, der als Postdoktorand am Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE) arbeitet und nun zusammen mit seinen Kollegen am MPIE, der Technischen Universität Darmstadt, der Delft University of Technology (Niederlande) und des KTH Royal Institute of Technology (Schweden) die neuesten Forschungsergebnisse in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht hat, erklärt: „Wenn wir Hochentropie-Legierungen entwickeln wollen und nur die am häufigsten genutzten Elemente im Periodensystem in Betracht ziehen, dann ergeben sie 10hoch50 mögliche Legierungsvarianten – eine Zahl, die nicht experimentell überprüft werden kann. Deshalb haben wir ein auf Wahrscheinlichkeitsmodellen und künstlichen neuronalen Netzen basierendes Framework für aktives Lernen entwickelt“.
In drei Schritten zu neuen Legierungen
Dieses universelle Framework für aktives maschinelles Lernen hilft, neue Legierungen mit gewünschten Eigenschaften schneller und kostengünstiger zu identifizieren. Das Framework wurde erfolgreich bei der Entdeckung neuer Invar-Legierungen mit speziellen Wärmeausdehnungseigenschaften angewendet. Diese Legierungen bestehen aus Eisen und Nickel und dehnen sich nicht aus beziehungsweise ziehen sich nicht zusammen, wenn sich die Temperatur ändert. Ihr idealer Einsatzbereich sind Behälter zur Speicherung von flüssigem Wasserstoff, Ammoniak und Erdgas bei Temperaturen zwischen -160 °C und Raumtemperatur. „Invar-Legierungen vorherzusagen ist rechnerisch ein sehr anspruchsvolles Problem, weil verschiedene Faktoren wie Magnetismus und Gitterschwingungen miteinander wechselwirken unddie thermische Ausdehnung beeinflussen. Die Entdeckung neuer Invar-Legierungen ist deshalb ein hervorragender Beweis für unsere Berechnungen ebenso wie für das entwickelte Framework für aktives Lernen“, sagt Dr. Fritz Körmann, Forschungsgruppenleiter an der Universität Delft sowie am MPIE und Mitautor der Publikation.
Das von den Wissenschaftlern entwickelte Framework für aktives Lernen umfasst drei grundlegende Schritte. Zuerst werden vielversprechende Legierungszusammensetzungen auf Basis eines tiefen generativen Modells gefunden, das unüberwachtes Lernen mit zufälligen (stochastischen) Stichproben kombiniert. Im nächsten Schritt werden diese Zusammensetzungen mithilfe eines zweistufigen Regressionsmodells überprüft, nach dem etwa 20 vorgeschlagene Zusammensetzungen übrigbleiben. Von diesen Zusammensetzungen wird eine Rangfolge ermittelt, und die drei besten Kandidaten werden experimentell verarbeitet und charakterisiert. „Wir führen die Modell-Vorhersagen, die theoretischen Berechnungen und die experimentelle Überprüfung in einem zirkulären Framework zusammen, und in nur sechs Iterationen haben wir erfolgreich zwei finale neuartige
Invar-Legierungen mit verbesserten thermischen Ausdehnungseigenschaften identifiziert“, sagt Prof. Hongbin Zhang von der Technischen Universität Darmstadt und Mitautor der Publikation.
Aktives maschinelles Lernen bei kleinen Datenmengen
„Modelle für maschinelles Lernen haben ganz erstaunliche Erfolge erzielt, wenn praktisch unbegrenzte Datenmengen verfügbar sind, beispielsweise bei Videospielen oder wenn sie an fast einem Drittel der im Internet vorhandenen Inhalte trainiert werden. Viel schwieriger ist es dagegen, Anwendungsfälle zu finden, bei denen künstliche Intelligenz einen Unterschied in der realen Welt ausgemacht hat – wie dies hier der Fall ist. Es ist sehr spannend, dass die Vorhersagen nicht nur in der Simulation getestet wurden, sondern dass neue Legierungen physisch hergestellt und geprüft wurden“, sagt Prof. Stefan Bauer vom KTH Royal Institute of Technology und Experte für maschinelles Lernen. Die Wissenschaftler werden sich nun schwerpunktmäßig mit magnetischen Materialien und Magnetismus, wichtige Werkstoffe für die Energiewende, wie Prof. Oliver Gutfleisch von der Technischen Universität Darmstadt,
betont, beschäftigen und die dazu nötigen Framework-Schritte entwickeln.
Bildtext: Überblick über das Framework für aktives Lernen zur Entwicklung von Hochentropie-Legierungen. Das Framework kombiniert Modelle für maschinelles Lernen, auf der Dichtefunktionaltheorie basierende Berechnungen, thermodynamische Simulationen und experimentelles Feedback. Copyright: Science 378 (2022) 6615. DOI 10.1126/science.abo4940
Quelle und Grafik: Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE)